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Archiv-Artikel

Beteiligen die Grünen die BürgerInnen besser?

DEMOKRATIE Die Menschen ernst nehmen: Vor einem Jahr trat in Baden-Württemberg Grün-Rot mit diesem Versprechen an. Doch mit dem Thema Bürgerbeteiligung punkten heute – die Piraten

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Walter Sittler, 59, ist Schauspieler und hat sich gegen Stuttgart 21 engagiert

Schlechter als die schwarz-gelbe Vorgängerregierung und die SPD in Baden-Württemberg kann man die BürgerInnen gar nicht beteiligen. Insofern können es die Grünen nur besser machen. Vor bald einem Jahr wurde mit Gisela Erler eine Staatsrätin für Bürgerbeteiligung berufen. In den Verwaltungen des Landes finden Gespräche statt, wie Bürgerbeteiligung aussehen kann. Das ist um Längen besser als alles Bisherige. Aber ist es deshalb schon wirklich gut? Die vielfältigen Beteiligungsformen sollten nicht von oben definiert werden. Die politisch Verantwortlichen – samt ihren Mitarbeitern – wären gut beraten, mit den BürgerInnen über ihre Sorgen, Wünsche und auch ihren Beteiligungswillen zu sprechen, um dann zu Lösungen zu kommen. Bettina Wilhelm, SPD-Kandidatin bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl, sagte: „Die BürgerInnen sind Experten ihrer eigenen Situation.“ Erst wenn die Grünen das beherzigen, werden sie es wirklich besser machen können. Hoffentlich wollen sie das auch.

Gisela Erler, 65, Grüne, ist Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg

Beteiligung wird in keinem Bundesland so intensiv und systematisch angegangen wie in Baden-Württemberg unter Grün-Rot. Wir sind dabei, ein Musterland für Bürgerbeteiligung zu werden. Für mich bedeutet bessere Beteiligung zunächst, dass möglichst viele Fakten und Daten aus Verwaltung und Regierung breit zugänglich gemacht und neue Informations- und Diskussionskanäle eröffnet werden. Mit einer Online-Beteiligungsplattform werden wir die großen Chancen nutzen, die das Internet bietet. Das bedeutet aber auch eine frühzeitige Beteiligung von Bürgern an Planungsverfahren, einen offenen Austausch über Erwartungen, Befürchtungen und Auswirkungen eines Projektes. Deswegen werden wir im Sommer die Eckpunkte eines Leitfadens für eine neue Planungs- und Beteiligungskultur vorstellen. Auch direktdemokratische Elemente, also Volksentscheide und Bürgerbegehren, sind wichtig, um dem Bürger im Konfliktfall mehr Nachdruck zu verleihen. Wir setzen uns für eine Absenkung der existierenden Quoren ein und fordern, dass in Zukunft bei allen Volksabstimmungen mit der Stimmbenachrichtigung eine Informationsbroschüre verschickt wird, die über die Vorlage informiert. Auf kommunaler Ebene machen wir uns für eine Direktwahl der Landräte und eine Absenkung des Wahlalters stark.

Barbara Steininger, 50, Politikwissenschaftlerin, lehrt an der Universität Wien

Bürgerinitiativen spielten bereits in der Gründungsphase der Grünen eine wesentliche Rolle. Aus ihnen rekrutierten sich viele angehende politische Akteure. Etliche Abgeordnete der Grünen haben sich zu Beginn ihrer politischen Laufbahn in Bürgerinitiativen engagiert – das dürfte weiterwirken. Nach Stuttgart 21 versucht man in Baden-Württemberg offensichtlich, eine Kultur der Bürgerbeteiligung aufzubauen. Reformen, die es erleichtern, Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen – wie zum Beispiel die Absenkung des Quorums für Volksabstimmungen oder die Absenkung des Wahlalters –, sind sinnvoll und erstrebenswert. Allerdings ist bei all den geplanten Modellen zu beachten, dass die Bürgerbeteiligung, soweit möglich, tatsächlich in eine Bürgermitentscheidung mündet und nicht als bloße Bürgerbeschäftigung endet. In Österreich war eine der erfolgreichsten Bürgerbeteiligungen die Volksabstimmung zur Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf im Jahr 1978. Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky von der SPÖ glaubte, die Bevölkerung würde die Atomenergie befürworten. Allerdings stimmte dann eine knappe Mehrheit dagegen. Diese Volksabstimmung war eines der Sammelbecken, aus denen später die Grüne Partei in Österreich entstand, die schließlich 1986 in den Nationalrat einzog.

Angelika Beer, 54, war Vorsitzende der Grünen. 2009 trat sie der Piratenpartei bei

Eine Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg macht noch keine Basisdemokratie aus. Das Dilemma der Grünen wird dadurch nicht gelöst. Beim Landtagswahlkampf standen die Grünen an der Spitze des Widerstands gegen Stuttgart 21, es ging um Stimmenfang. Anschließend erst gegen, dann für den Volksentscheid und schließlich das ungeliebte Ergebnis: ein „Ja“ der Bürger für das Projekt. Die Grünen versprechen eine „Politik des Gehörtwerdens“. Es reicht dem Bürger aber nicht, wenn seine Stimme ins linke Ohr reingeht und aus dem rechten wieder rauskommt. Die Piraten setzen dagegen auf eine „Politik des Mitmachens“. Sie sind unterwegs auf der Datenautobahn, im Web 2.0 mit allen seinen Möglichkeiten der direkten Beteiligung und der direkten Demokratie. Das ist die politische Mobilität der Zukunft.

Christian Heise, 29, bloggt über elektronische Demokratie auf e-demokratie.org

Winfried Kretschmann, der erste grüne Landesvater, hat stets betont, dass die Einbeziehung der Regierten eines der Leitmotive seiner Arbeit ist. Das hat ihn ins Amt gebracht und daran muss er sich messen lassen. Nach einem Jahr Grün-Rot folgt Ernüchterung gepaart mit der Feststellung, dass auch die Grünen die langjährige Tradition vom obrigkeitsstaatlichen Denken in Baden-Württemberg nicht einfach verbannen können. Zwar sind der „Fahrplan Bürgerbeteiligung“, das im März gestartete „Open Data Portal“, die Einführung der Landesverfassungsbeschwerde und die geplante Online-Beteiligungsplattform Schritte in die richtige Richtung. Trotzdem kann man noch nicht von mehr Einbeziehung der BürgerInnen sprechen. Im Gegenteil: Schon als die Pläne für mehr Beteiligung entwickelt wurden, gab es wenig Möglichkeiten, sich zu engagieren. Aber es braucht Zeit und Geduld, Bürgerbeteiligung langfristig zu etablieren. Will man die Frage, ob die Grünen die BürgerInnen besser beteiligen, präzise beantworten, so wäre die Antwort ein „nein“. Obwohl genau genommen ein „noch nicht“ besser wäre. Bitte weiter am Ball bleiben, Herr Kretschmann! Weiter Druck machen, ihr Wutbürger!

Hasan Eker, 51, lebt in Dortmund und kommentierte die sonntaz-Frage auf taz.de

In den Kommunen in Nordrhein-Westfalen beteiligen die Grünen die BürgerInnen nicht an ihren Entscheidungen. Alles wird im engsten Kreis unter den Parteimitgliedern entschieden. Zwar sind viele Sitzungen öffentlich, doch nur Grünen-Mitglieder sind stimmberechtigt. Bei der SPD ist es aber noch schlimmer: Da dürfen Nichtmitglieder nicht einmal an den Sitzungen teilnehmen! Die Entscheidungen fällen ein oder zwei einflussreiche Personen in den Unter- und Oberbezirken der SozialdemokratInnen.

Thomas Strobl, 52, ist Chef der CDU Baden-Württemberg und sitzt im Bundestag

Beteiligungsrechte bei den Grünen? Die CDU-Mitglieder wählen ihren Kandidaten für die Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl öffentlich zwischen mehreren Bewerbern aus – der Grünen-Kandidat wird der Basis hingegen zwangsverordnet. In die Landesregierung starteten die Grünen mit großen Versprechen und Kretschmanns Verheißung einer „Politik des Gehörtwerdens“. Dabei diente die Stuttgart-21-Volksabstimmung bloß dem Koalitionsfrieden. Längst redet der Ministerpräsident kleinlaut davon, dass „gehört werden“ nicht „erhört werden“ heißt. Dabei zeigt das Beispiel Polizeireform: Fachliche Einwände der Betroffenen werden nicht nur nicht erhört, sie werden nicht einmal ernsthaft gehört.