: „Ich sollte mich nicht so sehr amüsieren“
ALBUM Wenn Literaten, Künstler, Intellektuelle auftraten, war Digne M. Marcovicz mit ihrer Kamera dabei. Sie wurde zur Chronistin der alten Bundesrepublik. Ein Gespräch über Nazis, schlaflose Nächte und heilige Kinder
■ Die Frau: Marcovicz, geboren 1934 in Berlin, arbeitete für den Spiegel und gilt als eine der wichtigsten Fotografinnen Deutschlands. Einer ihrer Schüler ist der FAZ-Fotograf Helmut Fricke.
■ Das Werk: Marcovicz fotografierte viele Künstler und Intellektuelle. Ihr jüngstes Buch: „Der ewige Augenblick“, mit einhundert ihrer Werke (Edition Text und Kritik).
INTERVIEW ISABEL LOTT UND PHILIPP GESSLER FOTOS DIGNE M. MARCOVICZ
Auch die Wohnung – ein Gesamtkunstwerk. Das ist der erste Gedanke beim Besuch bei Digne M. Marcovicz in Berlin-Pankow: überall hängen Fotos – von ihren Kindern, ihren Freunden, von Künstlern. Etwas Chaos, aber auch ein freier, bildungsbürgerlicher Geist. Regalreihen voller Bücher, das meiste gelesen, ganz offensichtlich, ein Hauch Bohème. Das Gespräch weht umher, ohne oberflächlich zu werden. Ab und zu rutscht man, ohne Anbiederei, in ein berlinerisch gefärbtes Du.
sonntaz: Frau Marcovicz, ertragen Sie es, die Gedenkstätte Plötzensee zu besuchen?
Digne M. Marcovicz: Sie spielen auf den Tod meiner Schwester Cato an, die dort von den Nazis ermordet wurde – natürlich, ich kann alles ertragen. Dort nicht hinzugehen, davon wird es nicht besser.
Sie gehen dort also hin?
Ich habe da schon gefilmt. Ich hatte einen sehr geliebten Lehrer auf der von Reformpädagogen gegründeten Schulfarm Scharfenberg, Heinrich Scheel. Der war zusammen mit meinem Vater im Gefängnis, weil sie beide NS-Gegner waren. Scheel hat meinem Vater das Leben gerettet. Er hatte beim Umschluss versucht, meinem Vater einen kleinen Zettel zu übergeben. Der Wärter hat das bemerkt, beide wurden durchsucht. Der Brief wurde aber nicht gefunden. Nach dem Krieg stellte sich heraus, dass Scheel diesen Kassiber gegriffen und blitzschnell in seine Trainingshose gesteckt hatte. Die Fama ist, er hätte ihn aufgegessen, was ich natürlich sehr viel schöner finde. Mit Heinrich Scheel war ich in Plötzensee, auch in dem Hinrichtungsraum.
Wie sehr hat Sie die Geschichte Ihrer Schwester Cato geprägt?
Ich bin nicht geprägt. Ich habe eine Schwester gehabt, die war eines Tages nicht mehr da, und ich habe nicht mitgekriegt, dass sie umgebracht worden ist. Darüber wurde mit uns Kindern nicht geredet. Ich kann mich nur daran erinnern, dass mein Vater und meine Mutter heulten. Ich konnte das nicht so richtig einordnen, aber ich dachte mir oder wusste, dass Cato tot ist. Als Kind ist man sehr vorsichtig, man lässt vieles nicht so nah an sich herankommen.
Wie bewusst war es Ihnen als Kind, dass Ihre Eltern Gegner der Nazis waren?
Es gab damals immer wieder Schwierigkeiten mit meiner Mutter, die ja jüdischer Herkunft war, was niemand so genau wusste. Außerdem war meine Mutter unvernünftig. Sie wollte nicht, dass ich zum Bund Deutscher Mädel gehe, und schrie rum: Geh doch nicht zu diesen Verbrechern! Ich wusste ganz genau: Darüber darf ich mit niemandem reden.
Ihr Vater, der Keramiker Jan Bontjes van Beek, über den Sie vergangenes Jahr ein Buch geschrieben haben, wurde auch von der Gestapo verhaftet, aber nach drei Monaten wieder entlassen, während seine Tochter Cato als Widerstandskämpferin hingerichtet wurde. Hat ihn das gebrochen?
Ich bin überzeugt, dass mein Vater das nie, nie überwunden hat. Das ist auch verständlich, denn er hat gelebt, und seine Tochter wurde umgebracht. Cato hat ja nicht gelogen, auch vor den Nazis nicht, die hat alles zugegeben. Mein Vater und meine Mutter haben, ohne dass sie sich verabredet haben, die gleichen Aussagen gemacht. Die haben nichts zugegeben. Cato war da sehr naiv und blauäugig.
Sie sind in Berlin geboren und haben das Nachkriegsdeutschland erlebt. War es nicht schrecklich, wenn man hier aufwuchs und überall lebten noch die alten Nazis?
Das ist bis heute schrecklich. Ich meine, Entschuldigung, wo leben wir? Es ist ja nicht so, dass die Nazis heutzutage NPD-Mitglieder sein müssen. Es gibt doch sehr viele Menschen mit neonazistischen Einstellungen.
Ihr Vater wurde nach dem Krieg Direktor der Kunsthochschule Weißensee in Ostberlin. Hat er sich jemals angepasst?
1950 hat mein Vater die Eröffnungsrede zum Beginn des Semesters gehalten, in der er Faschisten in Ost und West erwähnte, die ihm bekannt waren. Mein Vater war immer ein Mann, der gesagt hat, was er dachte. Das wurde ihm von den Parteibonzen sehr übel genommen. Er und andere Dozenten sind dann in den Westen an die Hochschule der Künste gegangen. Auch dort hat er sich mit den früheren Nazis angelegt.
Sie kommen aus einer Künstlerfamilie und haben vorwiegend Künstler wie Andy Warhol, Intellektuelle wie Martin Heidegger, Literaten wie Günter Grass, Schauspielerinnen wie Hanna Schygulla und Filmemacher wie Alexander Kluge fotografiert. Was reizte Sie gerade an diesen Menschen?
Erst mal ist es so, dass ich alle Menschen fotografiert habe. Das war mein Beruf, und das wurde mir auch abverlangt. Ich bin Pressefotografin. Da kommt es einem halt unter, dass man solche Leute fotografiert.
Aber Sie haben mehrere Porträtbände mit Leuten aus diesem Milieu gemacht.
Natürlich hat mich die geistige Persönlichkeit immer besonders interessiert, aber ich habe auch Menschen, Tiere, Sensationen festgehalten. Martin Heidegger habe ich als Fotografin für den Spiegel fotografiert. Rudolf Augstein ging zu Heidegger, um ihn zu interviewen. Deshalb habe ich ihn fotografiert. Das Interview und meine Fotos durften, so wollte es Heidegger, erst nach seinem Tod veröffentlicht werden.
Ihre Aufnahmen von Augstein und Heidegger in Heideggers Hütte im Schwarzwald sind Ikonen …
Ich war total aufgeregt und hatte danach schlaflose Nächte, weil ich glaubte, ich hätte das Landambiente nicht genügend festgehalten. Heideggers NS-Vergangenheit fand ich suspekt, aber seine Liebe zur Natur lag mir sehr.
Es ist auffällig, dass auch beim Spiegel vor allem Termine mit Menschen aus dem Kulturleben mit Ihnen besetzt wurden.
Ja, aber leider habe ich längst nicht alle fotografiert. Den Jaspers nicht, den Sartre nicht. Den hätte ich gern fotografiert. Aber man hat mich nie ins Ausland geschickt, was auch ein bisschen eine Strafe war. Ich sollte mich nicht so sehr amüsieren, das haben dann andere gemacht, nicht die freche Marcovicz.
Dafür haben Sie das Who’s who der Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik begleitet. Verstanden Sie sich als Teil dieser Kunst-, Film- und Literaturszene – oder nur als deren Chronistin?
Sicher als Chronistin – wer bin ich denn? Ich habe mich da nicht als besonders wichtig gefühlt. Das entspricht nicht meiner Charakterstruktur. Ich habe die Leute fotografiert – und habe mich gefreut, wenn ich damit Geschäfte gemacht habe.
Konnte man damit gute Geschäfte machen?
Erst mal muss man als junge Fotografin auffallen. Als ich anfing, habe ich meine ersten Bilder in der Süddeutschen im Feuilleton veröffentlicht. Ich glaube, es ist wichtig, dass man im Feuilleton veröffentlicht wird. Dadurch macht man auf sich aufmerksam. Bei mir hat das alles gedauert, ich musste ja Geld verdienen. Ich kam von der Fotoschule und habe zuerst für die Quick fotografiert.
Damals eine wichtige Illustrierte. Wie kamen Sie dorthin?
Ich habe einen Redakteur der Quick so lange genervt, bis der sagte: Machen Sie mir doch den Sex der langen Haare. Ich habe mir dann hübsche Mädchen gesucht und fotografiert, und es gab zwei Doppelseiten in der Quick. Das einzige Problem war der Brustnippel, der bei einem der Mädchen zu sehen war, der musste wegretuschiert werden.
Ab dann waren Sie im Geschäft.
Ja, aber ich musste ständig Geschichten nachstellen. Ein Thema war „Urlaub in Ruhpolding“. Zuerst habe ich ganz normale junge Mädchen fotografiert. Die Redakteure haben aufgeschrien und gesagt: Du machst das jetzt richtig und organisierst dir über die Agentur ein paar schicke Mädels. Ich habe dann die Models in Ruhpolding mit und ohne Kühe fotografiert, mit und ohne Perücke.
Kein toller Job.
Ich musste das alles erst lernen, wie es läuft in der Presse. Dass an der Wahrheit kein Mensch interessiert ist. Irgendwann war mir das alles suspekt, und ich habe es nicht mehr ausgehalten, diesen Quatsch zu fotografieren.
Und dann?
Ich bin 1964 zum Spiegel gegangen und habe gesagt: Ich möchte bei Ihnen Fotograf werden. Die meinten: Das möchte jeder. Ich sagte: Ich bin aber besser, und eure Spiegel-Gespräche sind ja grauenhaft fotografiert. Das war damals sehr provozierend. Ein Bildredakteur nahm mich an der Hand und ging mit mir zum Chefredakteur Johannes Engel: Hier, Engel, die Frau meint, sie macht bessere Bilder als die, die wir ständig drucken. Der meinte: Dann versuchen wir es mal. So kam ich zum Spiegel. Es war eine beinharte Männerwelt, aber ich bin damit immer gut zurechtgekommen.
Zwei Ihrer Fotobände, „Die Lebendigen und die Toten“ und „Der ewige Augenblick“, haben etwas Melancholisches – man sieht viele Kulturschaffende der sechziger und siebziger Jahre, die bereits tot sind. Vermissen Sie diese Zeit?
Das „Lebendigen“-Buch habe ich 1992 herausgegeben, viele Leute aus diesem Buch sind heute tot. Aber es ist halt so. Wir kommen, und wir gehen. Ich habe genügend Tote um mich herum. Ich bin aber auch nicht besonders trieftränig. Ich habe einfach in meinem Leben gelernt, dass es unendlich viele solcher Situationen gibt, dass man mit den Toten leben muss. Man kann ja nicht jeden Tag heulen.
Sie haben diese Menschen durch Ihre Fotografie verewigt.
Über die Fotografie kann ich sie dem Vergessen entreißen. Das ist etwas, was sehr wundersam ist und wofür ich sehr dankbar bin. Es ist schon etwas Schönes, dass ich alte Fotos anschauen kann. Dort, mein kleiner Bruder an der Wand, das ist schön, dass ich den anschauen kann. Und hier, die Fotos am Schrank, das sind alles Tote. Ich finde es schön, dass ich sie um mich habe, und lebe mit ihnen.
Sie haben unter anderem Rudi Dutschke und Brigitte Mohnhaupt fotografiert. Haben Sie sich als Teil der 68er-Bewegung begriffen?
Sympathisiert habe ich. Aber ich war kein Teil davon. Ich habe nie auf Demos demonstriert, weil ich Demos immer fotografieren musste. Deshalb kann ich auch so gut laufen.
Warum haben Sie nach etwa zwanzig Jahren beim Spiegel aufgehört?
Ich wollte nicht mehr, und es war auch nicht mehr schön. Ich wollte auch was anderes machen. Ich bin dann abgehauen und wollte Filme drehen. Ich habe mich verliebt ins Filmen. Mit einer kleinen Canon habe ich während einer Moskaureise tonlos angefangen, auf einer Super-8-Kamera zu filmen, nebenher habe ich fotografiert, das war meine Art, die Reise zu finanzieren. Es war, als hätte ich zwei Säuglinge an der Brust, einen Fotoapparat und eine Filmkamera. Ich habe aber Wert darauf gelegt, beides gleich gut zu machen.
Dann haben Sie den Film „Praktisch bildbar“ gemacht.
Galerie Marcovicz: Schauspielerin Uschi Glas, 1965 in München, oben links – und im Uhrzeigersinn der Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, 1985; die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, 1962 in Berlin bei einem Treffen der Gruppe 47; Fotomodell Twiggy, 1968 auf dem Münchner Viktualienmarkt; die SPD-Politiker Hans-Jochen Vogel (links) und Helmut Schmidt, 1974 in München Fotos: Digne M. Marcovicz
Ja, es ging um einen Türkenjungen, den mein Sohn nach Hause brachte. Der Junge war in ganz schrecklichen Umständen, und ich wusste, wenn ich nichts für mich mache daraus, kann ich nichts für ihn machen. Deshalb habe ich ein Exposé dazu geschrieben und ans ZDF geschickt. Das ZDF fand das super und gab mir 100.000 Mark für den Film. Ich fing an, mit Video zu filmen, das machte damals noch niemand. Das war mein erster Film. Das ZDF hat das danach sehr bereut. Ich mache ja immer sehr politische Arbeit. Man kann es riechen, spüren, atmen, auf welcher Seite ich stehe. Es war eben ein – wie nannte man das damals?
Ein Autorenfilm?
Ja. Ich kenne auch Alexander Kluge gut. Der sagte: Digne, unsere Filme werden immer als nicht sendbar gelten. Ich habe irgendwann Deutschland verlassen, weil ich genervt war von dem ganzen Betrieb hier. Ich fand alles entsetzlich.
Was genau war entsetzlich?
Ich hatte dauernd Ärger mit den Redaktionen. Ich bin ja auch eine Abenteurerin. Ich hatte vom Spiegel eine Abfindung bekommen, um die ich gekämpft hatte. Zusammen mit dem Geld meines Freundes haben wir uns ein Haus in Italien gekauft. Am Ende haben wir es wieder verkauft, da er mich für eine jüngere Frau verlassen hat. Ich hatte einen grauenhaften Liebeskummer. Dann habe ich mir allein ein Haus gekauft, am Meer, neben Carrara, eine Ruine auf dem Berg. Ein riesiges Haus mit Land, vier Stockwerke. Ich kann sagen: Entweder man hat einen Mann oder ein Haus, dann ist man glücklich.
Von Ihren Fotos konnten Sie leben?
Ja. Ab und zu bin ich nach Deutschland gefahren und habe hier gejobbt, unter anderem für Alexander Kluge. Ich hatte nie viel Geld, aber man braucht ja auch nicht viel. Ich hatte einen Garten. Ich bin Vegetarierin. Es war alles wunderbar. Eine Zeit lang habe ich auch Zimmer vermietet. Eigentlich bin ich aus Deutschland weggegangen, weil ich mich mit der Natur beschäftigen wollte. Damals fing es an mit Bio und der schönen, sauberen Natur. Ich habe für den WDR schon 1984 einen Film über die Ökobewegung gemacht. Es ging um einen naturbewussten Lehrer an einer Schule im pfälzischen Katzenelnbogen. Der Arbeitstitel hieß „Die grüne Hölle“.
Warum fotografieren Sie dann kaum Stadt und Landschaft, sondern nur Menschen?
Sie sind einfach viel interessanter. Ich bin nicht so ein Landschaftsträumer. Ich habe es mit Menschen. Es gibt nichts Interessanteres als den Menschen. Ich habe nie Fotos gemacht, allein damit sie schön sind. Ich habe auch nie eine Fotoausstellung gemacht. Es gibt nichts Langweiligeres. Mit einer Ausnahme, der Ausstellung „Die Ästhetik der gedruckten Fotografie“. Es waren meine gedruckten Bilder im redaktionellen Zusammenhang, inhaltlich und politisch passend zusammengestellt. Das war für mich interessant.
Die Schönheit der Bilder reicht Ihnen nicht?
Die Bilder müssen einen Grund haben, weshalb sie überhaupt da sind. Wenn man den alten Heidegger sieht, wie er auf seiner Alm lebt, interessiert das jeden. Ich habe nie L’art pour l’art gemacht. Dieses Bild dort an der Wand von meiner Schwester ist schön – aber es ist für mich schön, weil es meine Schwester ist. Ich mag Fotos von Menschen, die ihnen selbst gefallen. Ich mag niemanden fotografieren, der sich auf seinen Fotos nicht wiedererkennt. Siegfried Unseld etwa, der Suhrkamp-Verleger, war nicht gerade good looking, eher kernig. Ich habe ihn so fotografiert, dass er weich wirkte. Da sagte er zu mir: Ach, dass ich so aussehen kann! Das hat mich richtig gerührt. Wie immer, wenn Leute auf den Fotos Seiten von sich entdecken, die sie nicht kennen.
Warum fotografieren Sie die heutige Künstlerszene zum Beispiel in Berlin nicht mehr?
Dieses Feld wird doch von anderen beackert. Außerdem fotografiere ich gar nicht mehr.
Warum nicht?
Keine Lust. Wirklich! Ich habe genug andere Sachen zu tun. Ich bin eigentlich dabei, aufzuräumen. Es muss ja irgendwie wieder eine Art von Ordnung hier entstehen.
Kunst und Bohème: Maler Gerhard Richter, 1971 im Kunstverein Düsseldorf, oben links – und im Uhrzeigersinn: Musiker David Bowie, während der Filmfestspiele Cannes 1978; Leben in der Kommune I, München 1969; Filmemacher Werner Schroeter und Digne M. Marcovicz bei den Dreharbeiten zu Schroeters Film„Palermo oder Wolfsburg“, 1980 Fotos: Digne M. Marcovicz
Sie haben eine Art Manga aus Interviews mit Holocaust-Überlebenden gemacht, das Buch „Massel“. Es kommt gut an bei Jugendlichen.
Es wird gesagt, dass ich immer noch etwas kindlich bin. Ich kann mich gut in Kinder und junge Leute hineinversetzen. Ich gehöre zwar zu der Oldie-Generation, aber ich fühle mich wohler mit jungen Leuten. Ich finde, dass junge Leute zu wenig darüber wissen, was in der NS-Zeit passiert ist. Teenager können doch mit vielen Berichten über den Holocaust nichts mehr anfangen. Ich wollte die Beschäftigung damit attraktiver machen. „Massel“ sollte etwas trashig wirken, um den jungen Leuten etwas nahe zu sein, um der Brisanz des Inhalts durch die etwas saloppe Art der Darstellung etwas entgegenzusetzen.
Sie wollen wirklich nie mehr fotografieren?
Ich würde gern noch ein Buch über Kinder machen. Die Fotos sind bereits vorhanden. Kinder sind etwas Großartiges. Ich finde, Kinder sind heilig. Das heißt nicht, dass ich mich dauernd um meine eigenen Kindern gekümmert hätte – und in manchen Dingen war ich streng. Es gibt einfach Punkte, da muss man sagen: So ist es und so bleibt es. Als meine Kinder noch jung waren, das waren schon Kämpfe. Vor allem mit meinen Töchtern. Hilfe!
Sie sagen, Kinder seien heilig, Ihre eigenen aber seien schrecklich, erklären Sie uns das!
Nagelt mich nicht darauf fest! Kinder sind schrecklich, weil man sie so sehr liebt und so viel von ihnen erwartet. Und weil man Ärger mit ihnen hat.
Muss man denn Kinder immer so ernst nehmen?
Ich denke, dass man Kinder sehr ernst nehmen muss. Man muss ihnen zugestehen, dass sie ein eigenes Leben haben, man darf sie nicht zu sehr dominieren. Ich habe nicht dieses Kuschelverhältnis zu meinen Kindern.
Wie meinen Sie das?
Das hat sich im Laufe meines Lebens eben so ergeben. Ich war halt nie eine Mutter, die immer zu Hause war. Ich habe immer darauf geachtet, dass es ihnen gutgeht, dass sie vor allen Dingen etwas lernen und in diesem Zusammenhang auch glücklich sind. Ich finde es wichtiger, dass mein Sohn seine Frau liebt, als dass er seine Mutter liebt – und das erfahre ich jetzt ziemlich dicke.
■ Isabel Lott, 50, taz-Fotoredakteurin, kann nicht fotografieren, sieht aber, was ein gutes Bild ist
■ Philipp Gessler, 45, taz-Reporter, fotografiert gern, könnte aber von Digne noch so viel lernen