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Archiv-Artikel

Ist Sport politisch?

DRUCK Politiker wollen die EM in der Ukraine boykottieren, Fußballer kritisieren das Regime. Ihre Widersacher meinen: Sport ist unpolitisch! Und sollte es auch bleiben

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Die sonntaz-Frage wird vorab online gestellt.

Immer ab Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der sonntaz.

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JA

Wolfgang Grenz, 65, Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty

Sport und Politik lassen sich nicht trennen. Oft versuchen Regierungen, Großveranstaltungen zu missbrauchen. Schon 1978, zur WM in Argentinien, galt: „Fußball ja – Folter nein“. Amnesty fordert nicht zum Boykott von Sportveranstaltungen in Ländern mit übler Menschenrechtsbilanz auf – aber wir sagen: Sportler, Funktionäre und Fans sollten auf die Situation aufmerksam machen. Für die Fußballspieler, die zur EM fahren, sollte gelten: Auf Fairness achten, auch am Spielfeldrand, denn die Ukraine foult in Sachen Menschenrechte. Politiker und Sportfunktionäre sollten Misshandlungen ansprechen. Populistische Boykottaufrufe und Fokussierung auf Timoschenko bringen dagegen wenig.

Claudia Roth, 56, ist Bundestagsabgeordnete und Bundesvorsitzende der Grünen

Der Sport hat ein Recht auf Eigensinn. Aber er hat auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Der DFB nimmt sie mit seiner Umweltkampagne oder den Spots zu Integration wahr. Wenn Jogi Löw sich zu Menschenrechten äußert, bringt das viele zum Nachdenken. Auch die Äußerungen von Philipp Lahm zeigen: Das deutsche Team ist ein Botschafter der Demokratie. Kritische Worte hätte ich mir auch von Michael Schumacher und Sebastian Vettel in Bahrain gewünscht. Die politische Bedeutung des Sports zeigt sich dort, wo er missbraucht wird. Aktive, Fans und Funktionäre haben ein ureigenes Interesse, dass ihr Sport nicht als glänzende Fassade für soziale und politische Missstände herhalten muss.

Imke Duplitzer, 37, Fechterin, boykottierte die Eröffnungsfeier in Peking

Sport versucht, eine Sonderrolle zu beanspruchen. Wenn es gerade passt, ist er politisch, wenn es unbequem wird, heißt es: Wir sind keine Regierung. Die Verbände müssen ihrer politischen und sozialen Verantwortung bewusst werden. Das fängt bei der Verantwortung gegenüber ihren Sportlern an. Es war unverantwortlich, Athleten zu den Olympischen Spielen nach Peking zu schicken. In Katar wurden Gastarbeiter zu unmenschlichen Bedingungen beschäftigt. Doch niemand hat gesagt: Da werden Menschen ausgenutzt! Sondern nur: Da müssen die armen Profis bei der Hitze aber ganz schön rumlaufen. Der Sport muss anfangen, Menschenrechte fest in seine Vergabekriterien einzuplanen. Denn: Sport ist politisch!

Thomas Kistner, 53, Sport-Redakteur der SZ und Buchautor, aktuell: „Fifa Mafia“

Sport ist nicht politisch? Richtig, aber nur Sport, der für Körperkultur steht – also das, was Amateure bewegt und Ehrenamtliche. Im Fall Ukraine wird nicht über Sport debattiert, sondern über eine Fußball-EM. Das ist hochkommerzieller Spitzensport, eine Entertainmentmaschine, die bis zu einer Milliarde Menschen vor die Glotze lockt. Deshalb entdecken immer mehr Autokraten diese Bühne. Die Autonomie des Sports nutzen Funktionäre, die in affärenumwitterten Wahlen ein Rohstoffreich nach dem anderen zum Veranstalter küren. Westliche Länder sollten sich nicht um Sportfeste ohne Mindeststandard an Menschenrechten bewerben.

NEIN

Claudia Kohde-Kilsch, 48, früher Tennisprofi, jetzt Sprecherin der Linken im Saarland

Sport wird überschätzt, wenn man erwartet, durch ihn politische Probleme zu lösen. Mit einem Sportboykott bestraft man nicht die Politiker, sondern die betroffenen Sportler und das Volk eines Landes. Die, die sich mit jahrelangem, hartem Training und in langer Planung auf ein großes Sportfest wie Olympia oder eine Fußball-EM vorbereitet haben. Sie freuen sich, dass sie ein großes Sportereignis in ihrem Land ausrichten dürfen. Damit bekommen sie auch die Chance, dass Europa und die Welt auf sie blickt. Ein Sportboykott, wie beispielsweise der bei Olympia in Moskau 1980, endet einzig und allein damit, dass Spitzensportler um ihre Medaillen und Erfolge gebracht werden. Fehlen in vielen Sportarten wegen eines Boykotts die Spitzenathleten, erreicht man damit nur, dass der Sport entwertet wird, nicht aber, dass sich politische Missstände in den Ländern ändern. Ein Sportboykott ist deshalb in meinen Augen völlig unsinnig.

Alex Senn, 25, ist freier Autor und hat die Streitfrage per E-Mail beantwortet

Ich bin ein Fußball. Mein Einsatz beschränkt sich auf große Bühnen: EM, WM. Was mich für meinen Beruf qualifiziert, ist die Gabe, mich emotional vom Geschehen außerhalb des Platzes abzugrenzen. Mich interessiert das Leben in den Spielorten außerhalb der Stadien nicht. Mir macht es nichts, wenn ich von einer Ecke in die andere gekickt werde, wenn man mich hin und her schubst. Früh hat man mich gelehrt, keine eigene Meinung zu haben. Politisches Interesse ist destruktiv, und was ausgegeben wird, muss auch wieder eingenommen werden. Unser Chef und seine Mitarbeiter sind auch nicht politisch. Hier fühle ich mich wohl. Zusammen reisen wir in die Ukraine. Dort soll es sehr ruhig und schön sein.

Ingo Steuer, 45, ehemaliger Eiskunstläufer und -trainer mit Stasivergangenheit

Politik sollte keine Athleten benutzen, um die Lösung politischer Konflikte zu erzwingen. Ein Sportler trainiert ein Leben lang für sein Ziel, mit allen Höhen und Tiefen. Natürlich muss im Sinne der Mehrheit und Gerechtigkeit entschieden werden. Aber es sollte nicht über die Köpfe derer entschieden werden, die es betrifft. In meinem Fall werde nicht ich, sondern werden meine Sportler für meine Verfehlungen im Jugendalter bestraft, eine Sache, die nur noch politisch gelöst werden kann, da den Sportfunktionären die Hände gebunden sind. Vielleicht kann ja erst mal dieses Problem im Sinne des deutschen Sportes und der Sportler gelöst werden, bevor wir uns im Ausland für andere stark machen!

Thomas Schäfer, 51, Kundenbetreuer, hat den Streit auf taz.de kommentiert

Sport per se ist zunächst unpolitisch. Großveranstaltungen bekommen jedoch eine politische Komponente, da sich Länder, Städte und Regionen präsentieren. Bei der Außendarstellung kommen Interessen ins Spiel; da geht es um ein positives Erscheinungsbild. So eine Präsentation ist nie rein sportlich. Hier ist ein Ansatz zu finden, wie Politik sich ins Spiel bringt und wo die Sphäre des „nur Sport“ endet.