: „Wir stehen erst am Anfang“
EXIL Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek kämpft von ihrem Schreibtisch in Paris aus für die Freiheit ihrer Landsleute. Ein Gespräch über Diktatoren, Schergen und ein Volk im Aufbruch
■ Die Person: Samar Yazbek wurde 1970 in der syrischen Stadt Dschabla geboren. Nach einem Abschluss in arabischer Literatur avanvierte sie zur Film- und Fernsehkritikerin. Sie veröffentlichte mehrere Romane und Kurzgeschichten-Bände. Sie ist unverheiratet und hat eine Tochter.
■ Die Chronistin: Sie ist Herausgeberin der Online-Zeitschrift Woman of Syria und Autorin der dissidenten „Gruppe Beirut 39“. Seit Beginn der syrischen Revolution im März 2011 schrieb Yazbek ein Protokoll der Protestbewegung. Sie befragte Demonstranten, aus der Haft entlassene Dissidenten, aber auch Polizisten und Militärs. Schon bald wurde sie selbst verfolgt und vom syrischen Geheimdienst massiv eingeschüchtert. Als sie erfuhr, dass ihr Name auf einer Todesliste steht, floh sie mit ihrer Tochter nach Paris.
■ Das Buch: „Schrei nach Freiheit“. Bericht aus dem Inneren der syrischen Revolution. Mit einem Vorwort von Rafik Schami. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 2012. 224 Seiten, 17,90 Euro.
■ Die Lesereise: Im Juni kommt Samar Yazbek nach Deutschland (1. 6., Köln; 3. 6. Freiburg; 4. 6, Basel; 5. 6. Heidelberg; 6. 6. Wuppertal. Details unter www.hanser-literaturverlage.de/termine.
INTERVIEW KHALID EL-KAOUTIT
sonntaz: Frau Yazbek, Sie kommen aus Damaskus – was machen Sie ausgerechnet in Paris?
Samar Yazbek: Das Visa-Verfahren war einfach, daher Paris. Ich bin seit dem 13. Juli 2011 hier.
Fast ein Jahr Exil.
Ich hatte gehofft, dass das Regime spätestens in diesem Frühling fallen wird. Darauf haben alle gesetzt. Wir dachten, das Regime wird irgendwann müde.
Warum wird es das nicht?
Assad hat die Macht von seinem Vater geerbt. Auch seinen Regierungsstil hat er vom Vater übernommen. Aber ich glaube, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Baschar Assad und Gaddafi zum Beispiel. Assad ist nur noch geschickter. Sein Image als moderner, gebildeter Staatsführer nutzt er mit Geschicklichkeit aus. Zudem wurde das Land vierzig Jahre lang darauf vorbereitet, von Baschar Assad regiert zu werden.
Das Land wehrte sich trotzdem.
Alle wussten, dass eine Revolution fällig ist. Aber die Unsicherheit war groß, ob die Straße sich auch anschließt. Zufällig haben dann Kinder in Dara’a Protestsprüche auf die Wände geschrieben. Der Geheimdienst hat ihnen zur Strafe die Nägel von den Fingern gerissen. Und das war zu viel! Die Brutalität der Geheimdienste hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Die Begriffe der Bürgerlichkeit, Freiheit und Würde hatten schon vorher immer konkretere Züge bei den Menschen angenommen. Und das Verlangen nach diesen Rechten wurde immer stärker – vor allem bei der jungen Generation.
Warum diese Brutalität des Regimes? Wie erklären Sie sich diese Radikalität?
Das ist das, was mich beängstigt. Die wollen nicht nur eine Diktatur errichten. Nein, denen geht es um Demütigung. Die Militärs und Geheimdienstler können einfach nicht akzeptieren, dass Menschen ihre Rechte fordern. Das ist die Struktur ihrer Psyche, sie sieht keine diplomatischen Lösungen vor, nur Tötung und Terror. Sie wollen das Volk zermalmen. Sie haben die Gesellschaft Syriens aufgebaut wie einen Bauernhof, der alleine Baschar Assad und seinem Clan gehört. Und auf diesem Hof dürfen die Bediensteten auf keinen Fall Rechte fordern.
Gaddafi, Mubarak, Ben Ali – hat das Regime nichts gelernt?
Sie dürfen nicht vergessen, dass sie Gaddafi geholfen haben. Dass sie versucht haben, den Arabischen Frühling zu stoppen. Nach dem Ausbruch der Revolutionen in den anderen Ländern hatten sie sogar Zeit, sich vorzubereiten. Und sie wussten, dass Syrien eine wichtige geostrategische Stellung in der Weltpolitik spielt, dass sie von Russland, China und dem Iran geschützt werden. Das Regime weiß auch, dass es wichtig ist für die Sicherheit Israels. Sie wissen, dass sie stärker sind als das Volk.
Was ist mit Skrupeln?
Diese Frage stellt sich ein Diktator nicht, der seit seiner Geburt erlebt hat, wie sein Vater das Land regiert. Ein Diktator, der in einer Umgebung voller Sicherheits- und Militärleute aufgewachsen ist. Er denkt, Syrien wäre sein Haus. Und nun gibt es Leute, die dieses Haus mit ihm teilen wollen. Er muss alle rausschmeißen – das ist die Mentalität von Baschar Assad.
Wenn Syrien auch Ihr Haus ist, wo liegt dann Ihr Zimmer – was genau ist Ihre Heimat?
Als Schriftstellerin ist Heimat für mich eine diffuse Idee. Aber diese Idee hat sich im Zuge der Revolution verändert. Vorher war für mich das Schreiben etwas wie Heimat, eine Zuflucht – das war auch sehr Ich-bezogen. Ich habe nie an Veränderungen in Syrien geglaubt. Aber ich habe das Ausmaß der Repression gesehen – des Polizei- und Geheimdienststaates und der Korruption in der Gesellschaft.
Und was ist Heimat heute für Sie?
Ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Verbundenheit zu einer Gruppe von Menschen, die ein zutiefst empfundenes, gemeinsames Anliegen haben: die Begründung eines gerechten Staates, in dem Bürgerlichkeit wirklich existiert. Freiheit und Würde. Wenn man zu Menschen gehört, die so viel Kraft, Mut und Geduld für dieses Ziel aufbringen und nach Monaten der Repression weitermachen, dann kitzelt dich von innen ein Gefühl von Stolz. Dann sagst du: Das sind deine Leute.
Sie sind Alevitin – und die bilden die regierende Elite Syriens, oder?
Nein! Die Aleviten sind nicht die regierende Elite, das ist ein historischer Irrtum. Es ist genau eine Familie, die Assads nämlich, die diese Ethnie in Geiselhaft genommen hat. Die Aleviten waren lange von Repressionen betroffen – und wurden dann ein Teil des Regimes, um ihre Identität wiederzufinden. Aber das Regime hat die Aleviten nur ausgenutzt – und nun stehen die meisten hinter ihm, weil sie Angst haben, von Sunniten massakriert zu werden.
Ist das ein realistisches Szenario?
Ich glaube, nein. Aber Assad hat viele teuflische Versuche unternommen, um die Leute in eine ethnische Auseinandersetzung zu treiben – bislang ohne Erfolg.
Es gibt aber heute mehr Ressentiments als vor der Revolution.
Ich war in den ersten Monaten der Revolution dabei, ich war auf der Straße, habe demonstriert. Es war alles friedlich. Die Leute wollten das Regime stürzen. Aber dann hat Assad teuflische Spiele betrieben, er hat Sunniten umbringen lassen und gesagt, dass waren die Aleviten. Und umgekehrt. Er hat es geschafft, die Leute zur Gewalt zu führen.
Wie genau?
Er hat das Militär gegen das Volk eingesetzt – und dann gab es immer mehr Deserteure, aus denen sich schließlich die freie Armee rekrutierte. Sie wurde zum bewaffneten Teil der Revolution – sie mussten ja desertieren, sonst hätten sie ihre eigenen Leute töten müssen. Aber zu Beginn war es eine Ausnahmerevolution, friedlich. Die Leute sind völlig ungeschützt auf die Straße gegangen, sie wussten, dass sie sterben konnten, und am nächsten Tag sind sie wieder auf die Straße gegangen. Aber aus Gewalt entsteht eben eine Kultur der Gewalt.
Hat die Revolution ihre Unschuld verloren?
Nein, sie hat ihre friedlichen Mittel verloren. Und das bedeutet, dass das Ausmaß der Gewalt und Repression gegenüber ganz einfachen Menschen zunimmt – das ist hier eine Volksrevolution, keine elitäre. Sie engagieren Schabihah – alevitische Mafiatypen in schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben –, die Sunniten umbringen.
Als Alevitin hätten Sie einfach Ihre Privilegien nutzen können, anstatt auf die Straße zu gehen. Dieser Gedanke kam mir nie in den Sinn.
Warum nicht?
Ich gehöre der Menschheit an, nicht einer bestimmten Ethnie. Die Menschen haben Freiheit und soziale Gerechtigkeit gefordert, ich habe das selbst erlebt, in den ärmsten Vierteln von Damaskus. Sie haben gerufen: Nicht Sunniten, nicht Aleviten – wir sind alle Syrer! Sie haben nach einem zivilen Staat gerufen. Bevor sie religiöse Parolen schwangen und sich gezwungen sahen, zu Allah zurückzukehren.
Zu Allah?
Sie müssen zu Allah zurückkehren am Ende, wenn sie von der ganzen Welt verlassen und dem Tod überantwortet werden. Sie brauchen einen Unterstützer, es liegt in ihrer einfachen Kultur.
Spielt Allah denn ein positive Rolle in dieser Revolution, kann er den Gang der Dinge verändern?
Was soll ich sagen – das ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits sind die Leute, die ihr Leben riskieren, der Überzeugung, dass sie nach ihrem Tod ein zweites Leben haben werden – wenn es so weitergeht, dann brauchen sie Allah … Der Mensch ist im Grunde ein schwaches Wesen, er braucht eine spirituelles Ventil, um zu überleben. Das ist die eine Seite.
Und die andere?
Nach Jahren der Depression ist der islamistische Gedanke in Syrien realistisch geworden. Es kann sein, dass dies nur meine Ängste sind: Wenn die Syrer allein gelassen werden, dann könnten sie sich bewahrheiten.
Was kann denn die Welt tun?
Sie tut ja nichts, die Welt. Sie will dieses Regime, denn es verteidigt ihre Interessen. Ein Gleichgewicht müsste sie herstellen, aber jeder, der in diesen Prozess involviert ist, will zunächst seine eigenen Interessen wahren. Sie sind sich nicht einig, wie sie diese Interessen untereinander koordinieren wollen, vor allem nach der Erfahrung in Libyen: Die Russen sind dort leer ausgegangen, deshalb haben sie jetzt Angst. Aber wenn die Verteilungsfrage gelöst ist, dann werden sie anders handeln. Außerdem glaube ich nicht, dass sich etwas ändert vor dem Ausgang der Wahlen in den USA.
Das klingt sehr nüchtern.
Ich habe junge Menschen gesehen in Gefängniszellen, sie hingen an den Füßen nach oben wie geschächtetes Vieh. Ich habe Schreie gehört, ich habe Katakomben gesehen. Ich habe Grausamkeiten gesehen, da wurden die Menschenrechte mit Füßen getreten. Leute, die so stark geschlagen wurden, dass sich ihre Haut am ganzen Körper löste. Das war viel – aber jetzt denke ich, dass diese ganze Grausamkeit eigentlich nichts ist, nach den Bildern, die ich jetzt im Moment aus Syrien sehe.
Haben Sie noch persönlichen Kontakt nach Syrien?
Natürlich, täglich. Mit den Aktivisten, die noch da sind.
Fühlen Sie sich nicht von den Geschehnissen abgeschnitten?
Nein, im Gegenteil. Wenn du draußen bist, dann willst du einen Ort schaffen, der ähnlich ist, parallel ist zu dem Inneren des Landes. Das Gefühl, dass du dem Tod entgangen bist, das ist eine zusätzliche Last. Du hast ein Schuldgefühl, dass du dieser Revolution noch mehr geben musst, opfern musst, als wenn du noch dort wärst.
Wie können die Exilanten helfen?
Zunächst durch mediale Arbeit. Das Regime versucht, das Bild der Revolution zu verzerren. Deshalb versuchen wir immer zu zeigen, was wirklich passiert ist in Syrien. Wir können auch den Menschen helfen, indem wir internationale Hilfsgüter organisieren. Ich habe gerade eine Organisation gegründet, sie heißt „Syrerinnen für die Entwicklung“. Wir beschäftigen uns mit den Angelegenheiten der Mütter, die kein Einkommen haben. Wir protokollieren Verhaftungen und Folter, die syrische Frauen erleiden. Wir kontaktieren Forschungszentren, die Gesetze erarbeiten in Bezug auf die Frauenrechte.
Welche Rolle haben die Frauen in dieser Revolution gespielt?
Eine führende Rolle! Sie haben revolutionäre Strömungen begründet, die im ganzen Land aktiv sind. Es gibt Frauen, die gegen das Regime anschreiben, das wahre Bild zeichnen. Andere sind in Hilfsorganisationen aktiv. Wahr ist, dass ihre Präsenz auf der Straße zurückgegangen ist, aber das liegt nur an dem drastischen Zuwachs der Gewalt. Die Frauen wurden für Zwecke der Gewalt instrumentalisiert – sie wurden gezielt angegriffen. Es gab Vergewaltigungen, sexuelle Belästigung.
Und welche Rolle spielt Asmaa Assad, die First Lady Syriens?
Asmaa ist eine Komplizin des Regimes. Sie ist Mittäterin. An dem Tag, als Homs bombardiert wurde, ihre Stadt, war sie shoppen im Internet. Asmaa wird als Schönheitsaccessoire für das Regime benutzt. Als schöne, elegante Frau, die aber auf Kosten des syrischen Volkes lebt – von seinem Blut. Sie hat ihre Stadt, ihr Volk und alle Frauen verraten. Sie hat auch diejenigen verraten, die anfangs auf sie gesetzt haben, als sie versprochen hatte, sich für den Aufbau einer modernen, zivilen Gesellschaft einzusetzen. Ihr ist es aber wichtiger, die First Lady zu bleiben, als sich für Gerechtigkeit einzusetzen.
Was ist Gerechtigkeit?
Wenn Menschen auch als solche behandelt werden. Aber was in Syrien passiert, ist nicht nur ein Verstoß gegen die Menschlichkeit oder Gerechtigkeit. Es ist ein Verbrechen gegenüber der Menschlichkeit. Wenn einem Kind mit größter Brutalität die Fingernägel herausgerissen werden, nur weil es einen Spruch auf die Wand gesprüht hat? Oder wenn ein Mensch umgebracht wird, weil er Freiheit und Würde gefordert hat?
Was ist eigentlich mit den Menschen, die die Drecksarbeit für das Regime machen, den Folterern und Schergen?
Einige von ihnen sehen das als reinen Job, sie kommen meist aus armen Verhältnissen und wollen Geld verdienen. Andere haben eine ethnische Treue zum Regime. Und wieder andere mögen es, den anderen zu demütigen, weil sie sich nur auf diesem Weg selbst spüren können. Die Motive sind gemischt, aber faktisch hat die Komplexität des Konflikts dazu geführt, dass viele Angst vor der Zukunft haben. Und weil das Regime bislang die stärkste Partei in dem Konflikt ist, wollen viele eben zu den Stärkeren gehören. Sie ahmen den Diktator nach und werden dadurch zu – kleineren – Monstern.
Können Sie sich im Moment überhaupt vorstellen, in ein solches Land zurückzugehen?
Ich habe große Sehnsucht nach Syrien, aber ich gehe erst zurück, wenn das Regime fällt. Die anderen, die noch im Land sind, die sind viel mutiger als ich.
Aber Sie tun doch auch was.
Meine Rolle als Schriftstellerin – die versuche ich zu erfüllen. Mehr kann ich nicht leisten. Das allgemeine Verständnis von Mut ist, dass du dich dem Tod gegenüberstellst – dass du dich dem Kugelhagel stellst. Philosophisch bedeutet Mut, dass du keine Angst hast, deine Meinung zu äußern, auch wenn dich das etwas kosten könnte – also als Schriftsteller, Intellektueller. Da muss man sich entscheiden und Position beziehen. Ich habe mich seit langem entschieden. Ich lebe seit langem außerhalb des familiären und gesellschaftlichen Rahmens. Ich lebe alleine, außerhalb der Gebräuche, die für Frauen bestimmt sind. Sie stammen selbst aus einem arabischen Land und wissen bestimmt, wie Frauen dort leben müssen, wie sie sich verhalten sollen? Diese Grenzen habe ich seit langem durchbrochen.
Mutig, ja.
Traditionen und Bräuche haben mich wenig interessiert. Aber ich habe nicht alles gegen die Wand gefahren. Ich betrachte Freiheit als Verantwortung. Als ich mich entschlossen habe, alleine zu leben, habe ich das als große Verantwortung gesehen.
Eine Verantwortung wem gegenüber?
Gegenüber den Frauen. Eine freie Frau sollte in der Lage sein, zu denken, sollte aktiv werden. Ihre Erfahrung sollte ein Beispiel sein für andere Frauen, die auch frei leben wollen. Die kommende Zeit wird eher von einer Beschneidung der Frauenrechte geprägt sein.
Inwiefern?
Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: In naher Zukunft werden die Islamisten erstarken. Aber das muss nicht fatal sein, wenn wir einen demokratischen Staat aufbauen, in dem sie sich auf demokratische Weise ausdrücken können – wir können uns streiten und verschiedener Meinung sein. Aber wir werden ihnen nicht erlauben, uns in die Vergangenheit zurückzuholen. Wir werden Jahrzehnte brauchen, um eine Zivilgesellschaft aufzubauen – und wir stehen erst am Anfang.
■ Khalid El-Kaoutit, 36, ist in Marokko aufgewachsen und lebt als Journalist in Berlin. Er berichtet regelmäßig aus den Ländern der „Arabellion“