: Eine Art Kreditgabe
„SCHULDEN IN BERLIN“ Ein äußerst lesenswertes „Lesebuch“ erklärt, wie es dazu gekommen ist, dass die Stadt derart in der Kreide steht
VON ANDREAS BECKER
Schulden sind was Tolles. Trinke ich zehn Flaschen Bier, schuldet mir die Brauerei 80 Cent und ich ihr die leeren Flaschen. Da die Flaschen in der Produktion mehr als acht Cent kosten, gibt mir die Brauerei also einen Vorschuss, bis ich mein Pfand einlöse. Zwischen mir und dem Brauhaus entsteht so ein Vertrauensverhältnis. Wenn ich die Brauer ärgern will, behalte ich die Flaschen möglichst lange, was im Sommer bei steigendem Bedarf blöd für sie ist. Außerdem ist das Pfand eine Art Kredit, auf den tollerweise keine Zinsen anfallen.
Umgekehrt verhält es sich beim Zwangspfand auf Einwegflaschen. Hier spekuliert der Discounter darauf, dass ich die 25 Cent Pfand nicht einlöse, denn die Flasche ist quasi wertlos für ihn. Nur deshalb ist der Preis von 19 Cent für 1,5 Liter Mineralwasser in Deutschland zu erklären. Wenn ich total pleite wäre, würde ich mir leere Flaschen in Polen besorgen, Zwangspfandbanderolen drucken und die Flaschen bei Aldi abgeben. Oder die großen vollen Plastikflaschenbeutel bei Getränke Hoffmann klauen.
Das Thema Schulden ist gerade in. Um nicht immer die gleichen Schuldenlamentos zu hören, hat das Verlag M des Berliner Stadtmuseums ein „Lesebuch“ herausgegeben. Lauter kurze und mittellange Texte befassen sich mit der Berliner Art des Schuldenmachens.
Interessant etwa der Text „Die Schatzinsel“ des langjährigen Tagesspiegel-Autors Mathew D. Rose. Der wunderte sich bei der Vorstellung des Buches im überfüllten Märkischen Museum über das schlechte Gedächtnis der Bürger. Eigentlich seien seine Storys „olle Kamellen, neu erzählt“. Ein Name wie Antes sagt vielen nichts mehr, sogar Landowsky scheinen viele CDU-Wähler nicht mehr zu kennen.
An Rose nervt, dass er jeden erwähnten Politiker als „Freibeuter“ bezeichnet. Seine Fakten aber sind lesenswert. Westberlin war 1989 gar nicht so stark verschuldet, der Bund hatte zwar rund 100 Milliarden Euro in die Stadt gepumpt (unter anderem in ein überdimensioniertes, sauteures U-Bahn-Programm), aber das waren Geschenke, keine Kredite an die Mauerstädter.
Das brachiale Schuldenmachen begann erst ab 1990 richtig. Unter Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) stieg die Verschuldung, laut Rose, in nur einer Legislaturperiode um 150 Prozent auf rund 25 Milliarden. Das war 1996. Heute sind „wir“ bei über 60 Milliarden Euro. Und zwischendurch wurden städtische Firmen wie Wasserbetriebe, Gasag und Bewag verkauft. Übrigens unter der als Sparkommisarin angetretenen SPD-Frau Fugmann-Heesing (Schuldensteigerung in ihrer Amtszeit: „nur“ 40 Prozent). Bis 1999 waren es dann auch erst 35 Milliarden.
Bei all diesen Finanzbegriffen fällt mir der tolle Titel des aktuellen Romans von Bernd Cailloux ein: „Gutgeschriebene Verluste“. Rose wundert sich, dass scheinbar kein Berliner Journalist die aktuellen Korruptionsskandale verfolgt. Das seien, sagt er bei der Lesung, die Baukosten beim BER und der Deal mit RWE bei den Wasserbetrieben.
Recht hübsch auch der Text „Orte“ von Lavinia Meier-Ewert. Sie verwebt absurde Zahlen zur Sanierung des Tempelhofer Schwerbelastungskörpers der Nazis mit der unglaublichen Geschichte des leer stehenden Steglitzer Kreisels und allerlei Straßeneindrücken. 900.000 Euro hat der Betonzylinder von Albert Speer in der Sanierung gekostet, veranschlagt waren einmal 8.700. Kein Problem für Berlin, es war EU-Geld. Der Leerstand des Kreisels verschlingt immerhin jeden Monat 87.000 Euro, seine Asbestsanierung kostet (angeblich) 32 Millionen. Wetten, dass sie nicht, wie geplant, dieses Jahr beginnt?
Das Schulden-Buch wird nett aufgelockert durch diverse Begriffs- und Namenslisten. Und durch absurde Rechenspiele. Wie viele Big Macs könnte man sich für Berlins Schulden kaufen? 18,5 Milliarden, aber nur etwa 620 Lionel Messis (Marktwert 100 Millionen) für Herthas Aufstieg. Wahrscheinlich um Kosten (oder Schulden) zu sparen, hat man honorarfreie Texte von Tucholsky, Heine oder Fontane ins Buch eingestreut. Dieser Text für die taz ist auch eine Art Kreditgabe. Bis ich das Honorar dafür ausgezahlt bekomme, werden, wie immer, knapp acht Wochen vergehen. In dieser Zeit kann die taz mit dem Geld Zinsen kassieren oder einsparen. Vorher gebe ich einfach noch ein paar Flaschen ab.
■ Schulden in Berlin. Verlag M, Berlin 2012, 236 Seiten, 19,90 Euro