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Als das Rad erfunden war

Wie sehr die Leute an der Eider in die neolithische Revolution involviert waren, lassen feinchronologische archäologische Untersuchungen zum Gräberfeld „Flintbeker Sichel“ erahnen

In der Analyse verwandelt sich die spektakuläre Fundstelle LA 3 in einen abstrakten Übersichtsplan: Eingezeichnet sind die Steinrahmen sowie Pflug- (100) und Wagenspuren (24), Feuerstellen (25–26), Pfostenloch (22) und Flintröstplatz (21) sowie Urnengräber (14–19) und Leichenbrandschüttung Grafik: Mischka

Von Benno Schirrmeister

Es gibt Orte, die reizlos wirken, obwohl sie spektakuläre Erkenntnisse erlauben. Dazu zählt Flintbek im Niemandsland zwischen Kiel und Neumünster. „Flintbek ist auf den ersten Blick grottenlangweilig“, sagt Doris Mischka.

Aber unter der Oberfläche gibt es weltweit so viele Plätze nicht, die mehr zu denken geben würden. Eine dort in den 1990ern entdeckte Parallel-Spur ist der bislang älteste Beleg für die Nutzung von Rädern. Das hatte 1999 schon Bernd Zich angenommen. Mischka kann für ihre Untersuchungen daran einen anderen Rekord beanspruchen: „Es ist das bestdatierte neolithische Rad“, sagt sie. Auch wurde hier bereits in der Jungsteinzeit gepflügt, im 35. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Mischka, mittlerweile Archäologie-Professorin an der Uni Erlangen-Nürnberg, hat diese Erkenntnisse für ihre Habilitation so miteinander verknüpft, dass sie neue Einsichten in die damalige Kultur ermöglichen.

Drei Bände à 500 Seiten hat ihr Werk übers Neolithikum in Flintbek. Ein Schmöker ist es nicht, eher ein sehr spezifisches Nachschlagewerk: Es kartiert in chronologischen Schichten die Funde der Flintbeker Sichel. So heißt ein Gräberfeld von 200 Hektar Größe. Es weist zwar weder nennenswerte Schauwerte auf noch ließe es sich fremdenverkehrsfreundlich inszenieren. Aber in Europa ist es eines der größten bekannten aus jener Epoche. Die Ausmaße und die Vollständigkeit der Ausgrabung plus die Einsicht ins Aufkommen umwälzender Kulturtechniken wie dem Pflügen verleihen diesem Friedhof so große Bedeutung wie den Welterbestätten von Newgrange oder Stonehenge.

Betrieben wurde er gut 1.000 Jahre lang, während der gesamten Trichterbecherkultur und darüber hinaus. Mischkas Forschungsansatz war nun, durch maximal-akribische Datierung eine Basis zu schaffen. Von der aus lässt sich eine Vorstellung davon entwickeln, wie tief die Gegend in jene bislang folgenreichste Umwälzung der Menschheitsgeschichte verstrickt war, die man neolithische Revolution nennt. Denn in der Jungsteinzeit hat sich eine sesshafte Lebensweise durchgesetzt, entstanden Ackerbau, Viehzucht, Schifffahrt: „Man ist in dieser Zeit in der Lage, aufgrund einer verbesserten Schifffahrt größere Distanzen auf dem offenen Meer zu überwinden“, so Johannes Müller, der an der Kieler Uni Archäologie lehrt. Er hat Mischkas Arbeit begleitet.

Missglückter Gottesbeweis half

Relativ neu ist die Art, mit der sie die Daten ausgewertet hat: Dank gestiegener Rechenleistung ist nämlich eine mathematische Methode des 18. Jahrhunderts gerade in vielen Disziplinen hoch im Kurs. Zwar hatte Reverend Thomas Bayes mit seinen stochastischen Forschungen wohl einen Gottesbeweis erbringen wollen. Entdeckt hat er aber eine Möglichkeit, aus dem Verhältnis zweier Wahrscheinlichkeiten zueinander die eines dritten Ereignisses zu berechnen: Wie nützlich das sein kann, beginnt man seit Mitte der 1950er zu kapieren. Um die Jahrhundertwende haben dann Archäologen eine Methode aus der Formel abgeleitet, um Chronologien für Ausgrabungsstätten zu entwickeln. Sie erlaubt, auch solche Funde relativ zu datieren, die nicht aus Holz oder Organischem sind, also deren Alter selbst sich nicht naturwissenschaftlich bestimmen lässt: Pflug- oder Radspuren zählen dazu. Sie bestehen ja nur aus der Verdrängung von Materie. Man kann nun ihr Mindest- und ihr Höchstalter mithilfe eines Modells der Abfolge der Bauabschnitte plus der in dieses eingetragenen Werte naturwissenschaftlich analysierter Relikte rechnerisch eingrenzen.

Ein einfaches Erdgrab, spätestens 4080 vor unserer Zeitrechnung ausgehoben, damit beginnt die Geschichte der Flintbeker Ruhestätte: Dolmen, Langbetten und Ganggräber werden dort ab dem 37. Jahrhundert errichtet. Etwa 1.000 Jahre später sind dann Grabhügel in Mode. Vor allem aber macht der Tod im Jungneolithikum nicht mehr alle gleich: Von Einzelgrabkultur ist die Rede. Sieben Flintbeker Fundorte zählen zu ihr. Beigaben dokumentieren den Rang der Bestatteten.

Das gab’s vorher nicht: Die wirklich großen Errungenschaften, die Fortschritt und relativen Wohlstand erst ermöglichen, stammen offenbar aus einer Gesellschaft, die andere Probleme als jene von individueller Geltung bearbeitet. Statt Genies haben in verschiedenen Weltgegenden Kollektive die entscheidenden Lösungen entwickelt – um dann doch im Kult des Einzelnen zu münden. Bloß warum?

Die Grenzen zwischen diesen Kulturen bleiben durchlässig: Unter den Funden aus drei Megalithgräbern hat Mischka Becherfragmente jener späteren Epoche nachgewiesen. Das heißt, die Be­woh­ne­r*in­nen der Nekropole, also die Toten, hatten offenbar Besuch aus einer für sie fernen Zukunft. „Die Menschen aus jener Zeit haben mit ihren Toten interagiert“, sagt Mischka. Diese Verhaltensmuster sind es, denen man durch die feinchronologische Einordnung der Fundstücke näher kommt.

Das ist relevanter, als die älteste Radspur der Welt abzufeiern, auch wenn es sich bei der um einen seltenen Glücksfall handelt, denn „normalerweise erhält sich so etwas überhaupt nicht“, sagt Mischka. Hier muss es nun so gewesen sein, dass ein Karren beim Bau einer Kammer benutzt wurde, um durch Hitze craquelierten Feuerstein von einem Röstplatz zum Boden des Grabes zu transportieren, den man damit bedecken wollte.

Gleich nach ihrem Entstehen ist die Spur durch die Hügelschüttung aus Erde bedeckt und so konserviert worden. Jetzt überlagert sie in der öffentlichen Wahrnehmung alles andere, sogar die Pflugspuren, die laut Mischka „mit einer Entstehungszeit vor 3550 vor Christus die ältesten absolut datierten Pflugspuren des nördlichen Mitteleuropa darstellen“. Dabei sind die Auswirkungen dieser Kulturtechnik größer als das Aufkommen des Rades: „Die Veränderungen, die der Hakenpflug verursacht, wirken sich nahezu auf die gesamte Lebensweise aus“, schreibt sie. Wer pflügt, erntet häufiger vom selben Feld. Das stärkt den Trend zur festen Siedlung, drängt den Wald zurück, ändert die Fauna, macht Tierhaltung sinnvoll. So gerät das soziale Gefüge in Bewegung.

Doris Mischka: „Das Neolithikum in Flintbek, Kr. Rendsburg-Eckernförde, Schleswig-Holstein“, Habelt-Verlag Bonn, 3 Bde,, 1368 S.,160 Euro

Die Radgeschichte hat im April für Schlagzeilen gesorgt, obwohl die News aus dem vergangenen Jahrhundert stammt. Ein angeblich auf Wissenschaft spezialisiertes Online-Portal behauptet seither sogar, dass im Kreis Rendsburg-Eckernförde „ein Archäologenteam unter Leitung von Doris Mischka von der Universität Kiel“ seit Längerem Ausgrabungen durchführe.

„Ich habe da nie selbst gegraben“, rückt Mischka diese Tomb-Raider-Vorstellung gerade: Archäologie besteht ganz unheroisch heute aus einem mühseligen Klein-Klein mehrgenerationeller Arbeiten. Bei einem Fundort wie Flintbek nimmt es selbst historische Dimensionen an: Hinweise auf steinzeitliche Relikte im Kreis Rendsburg-Eckernförde gibt’s seit dem 19. Jahrhundert.

Neuer Blick auf große Fragen

Als 1976 die systematische Untersuchung der Flintbeker Sichel begann, ging Mischka noch nicht mal in den Kindergarten. Und als der Bestand des Bodendenkmals 20 Jahre später fertig erfasst und die Grube zugeschüttet worden war, hatte sie in Köln und Bologna gerade fertig studiert und beschäftigte sich für die Dissertation mit bronze- und eisenzeitlichen Fundstellen am Oberrhein. Erst ab 2005 hat sie sich Holstein zugewandt, als Assistentin an Müllers Lehrstuhl.

Die wissenschaftliche Leistung ihrer Arbeit ist, dass sie für den norddeutsch-südskandinavischen Raum eine Basis etabliert, von der aus es nicht nur möglich ist, Vorstellungen über die Sozialstruktur der neolithischen Gesellschaften zu entwickeln, sondern sie „in ihrer historischen Dimension zu studieren“, wie Mischka schreibt. Sie erlaubt Rückschlüsse auf die Bevölkerungsdichte. Von hier aus lassen sich Thesen übers Verhältnis jener Gesellschaften zur Natur und ihr Verhältnis zum Jenseits formulieren. Weit, weit weg wirkt das alles. Aber darüber nachzudenken rührt an Menschheitsfragen.

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