meinungsstark:
Jetzt: „anders drüber nachdenken“
„Offene Briefe zum Krieg in der Ukraine: Reden ist Gold. Angesichts des Ukrainekriegs üben sich deutsche Intellektuelle im Verfassen offener Briefe. Schlecht ist das nicht, im Gegenteil“, taz vom 16. 5. 22
Ja, es ist wirklich super, dass es jetzt in europäischen Kriegszeiten wieder intervenierende und offen zum Anders-drüber-Nachdenken anregende Intellektuelle gibt. Sie sind im Grunde die geistigen Deserteure des Frontdenkens, in welchem es, um schnell und stark handlungsfähig zu sein, nur Freund und Feind, Ja und Nein, Verteidigung oder Kapitulation, Angriff oder Rückzug, Einvernehmen oder Gemetzel geben kann. Das Verheerende dabei ist, dass diese an der militärischen Frontlinie notwendige Vereinfachung in ausschließlich Schwarz und Weiß inzwischen die Diskursweise der Zivilgesellschaft und der sie informierenden und bemeinenden Massenmedien erreicht und größtenteils durchdrungen hat. Genau deshalb sind Leute notwendig, die trotz des Risikos, als empathielos und abgehoben mit Shit bestormt zu werden, öffentlich „zwischentönen“ und versuchen, die Perspektiven für all diejenigen, die ernsthaft nach bestmöglichen Lösungen suchen, zu erweitern. Wolfram Hasch, Berlin
Klima? Hauptsache, uns geht’s gut
„Deutschland lässt Klima-Versprechen schleifen. Die Bundesregierung hat eine deutliche Aufstockung der Klimaschutzgelder für arme Länder zugesagt. Im neuen Bundeshaushalt sieht man davon aber bisher nicht viel“,
taz vom 17. 5. 22
Deutschland lässt Klimaversprechen schleifen? Tja, das lässt sich inzwischen zumindest mit statistischer Relevanz behaupten. Uns ist vor allem eines wichtig – dass wir uns wohl fühlen in all unseren Äußerungen, Statements und Diskursen. So gesehen, setzen wir uns äußerst nachhaltig für unser Klima ein. Am liebsten im Wohnzimmer, auf 25 Grad erwärmt oder gekühlt, mit eiskaltem Kaltgetränk in der Hand.
Hildegard Meier, Köln
Radikaler Sozialkonstruktivismus?
„Foucault und die Folgen?“, taz vom 10. 5. 22
Sehr geehrter Herr Brumlik, ich war überrascht von Ihrer enthusiastischen Rezension von James Lindsays und Helen Pluckroses Buch „Zynische Theorien“, da beide, besonders aber Lindsay, zur US-amerikanischen Rechten zählen. Er unterstützte 2020 Trumps Wahlkampf und die republikanischen Versuche, die Thematisierung der Geschichte der Sklaverei im Unterricht zu verbieten, ebenso wie die berüchtigten „Don’t say gay or trans“-Gesetze. Deren Gegner*innen unterstellt er „grooming“, also die Manipulation Minderjähriger mit Missbrauchsabsicht, und rief so das altbekannte Feindbild pädophiler Queers auf. Dies indiziert, dass Lindsay die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit nicht am Herzen liegt, sondern dass er Freiheit und Universalismus nur aufruft, um ihre Voraussetzungen abzuschaffen. Lindsay sieht dabei unterschiedslos auch in der gesamten marxistischen Theorietradition postmoderne Ideologien, deren Import in die USA mit der Emigration der Frankfurter Schule begonnen habe. Ideologisch raunender Geschichtsrevisionismus gehört zu Lindsays Standardrepertoire: So setzt er die amerikanische Linke mit den Roten Khmer gleich. Auch inhaltlich ist die These unhaltbar, „dass die Emanzipation diskriminierter Gruppen längst vollzogen war, als Theorien aufkamen, die gesellschaftliche Diskriminierungen aus einem ‚Macht-Wissen-Komplex‘ heraus erklären wollen.“ Dies ist, einem materialistischen Emanzipationsbegriff gemäß, selbst heute nicht der Fall, wie schon durch empirische Befunde zu deren sozioökonomischer Lage klar wird. Doch auch mit einem bloß formal-juridischen Emanzipationsbegriff wird deutlich, dass bisher errungene, unvollständige Gleichstellungsschritte im Zuge der Illiberalisierung westlicher Demokratien zurückgedreht zu werden drohen (Abtreibungsrechte, Gesundheitsversorgung für trans Personen, Wahlrecht von BPoC in den USA, gleichgeschlechtliche Ehe). Von längst vollzogener Emanzipation kann keine Rede sein. Lilith Poßner, Leipzig
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