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Shi Ming FernsichtStromausfall heißt in China jetzt: Strom in guter Ordnung nutzen

Kulturtechnisch entsteht eine Real­satire etwa so: Um 2018 herum gab Ex-US-Präsident Donald Trump in der Presse liebend gerne an: „Nobody understands this thing better than I do“ (niemand versteht diese Sache besser als ich), danach kam irgendeine dumme Anmerkung von ihm. Seitdem kursiert, nicht nur in Amerika, sondern auch in China dieser Satz, sofort versteht man, wen man satirisch meint. Trump erhält daher den Spitznamen dongwang: König des Verstehens. Jeder, der dongwang genannt wird, weiß: Gelobt wird er nicht.

Nicht dass es so etwas im chinesischen Original nicht gäbe: 2013 erinnerte sich der chinesische KP-Chef Xi Jinping stolz öffentlich, wie er als junger Bursche 200 Pfund Reisig auf der Schulter tragen und gute fünf Kilometer bergigen Weg gehen konnte, ohne die Schulterseite zu wechseln. Seitdem wird im Internet danach gefahndet, wer „200 Pfund“ schreibt. Der mag damit, wie im Falle des „Königs des Verstehens“, die oberste Amtsperson Chinas aufs Korn nehmen wollen. Also, anders als in den USA muss „200 Pfund“ aus dem Netz gelöscht werden. Danach kommen so manche auf die Idee zu schreiben: „100 Kilo“, „2*50 Kilo“, „keine Schulterseite wechseln“.

Aber die Sache hat noch eine zweite Seite – eine amtlich-schönfärberische. In der zweiten Hälfte 1944 tauchte in der deutschen „Wochenschau“ regelmäßig die Formulierung auf: „(Da und da) wurde unsere Frontlinie wieder begradigt.“ Schnell dämmerte es vielen Deutschen: Der Krieg, den sie angefangen hatten, ist verloren. Im Herbst 2021 berichteten Chinas Medien regelmäßig über „Strom in guter Ordnung nutzen“. Sofort verstehen alle, was gemeint ist: Stromausfall. Vielerorts in Südchina an fünf Tagen in der Woche – in der Stadt Yingkou, Nordostchina, ohne Vorwarnung.

Shi Ming ist 1957 in Peking geboren, lebt seit 1989 in Köln und arbeitete dort als freier Autor. In seinen Texten setzt er sich mit dem politischen Geschehen und der gesellschaftlichen Entwicklung in seiner Heimat auseinander.

Nun haben beide Seiten, die realsatirische und die amtlich-schönfärberische, etwas gemeinsam. Sie funktionieren umso besser, je größer die Masse wächst, die sie versteht und selbst benutzt. Je massiver dies geschieht, wie im Falle der Satire „200 Pfunde & Co“, desto größer ist die Gefahr für die Gegeißelten. Desto mehr tendiert die Obrigkeit dazu einzugreifen, um, schönfärberisch gesagt, „die soziale Stabilität“ zu wahren.

Im Jahr 2009 hatten anonyme Trolle begonnen, das chinesische Schimpfwort caonima (fucking your mother) mit Lamas aus Peru, Chinesisch yangtuo, kreativ zu assoziieren. Sie nannten Lamas „Gras-Lehm-Pferd“, gleichlautend wie die vulgäre Schelte. An diesem Versuch entzündete sich umgehend ein Kulturfieber: Popsongs und Flashs mit dem niedlichen Tier geistern bis heute durch Social Media. Dazu erfundene Essays in lyrischer Sprache, angeblich seit dynastischer Zeit existierend, um das Wundertier aus Südamerika zu besingen. Die jüngste Nutzungsart: Einer, der in Yingkou wegen Stromausfalls ohne Warnung im Fahrstuhl feststeckte, tippte ins Handy: „In meinem Herzen traben 10.000 Lamas!“

Als KP-Chef Xi Jinping 200 Pfund Reisig auf einer Schulter tragen konnte

Zuzeiten von Big Data und künstlicher Intelligenz treibt das subtile Katz-und-Maus-Spiel neue Blüten. Anfang Januar 2022 bot die Suchmaschine Baidu jedem, der den Satzanfang „Jetzt dieser eine“ (xianzai zhewei) eintippte, als „meist benutzte Antworten“ an: 1. … der an seinem Stuhl klebt; 2. … der verrückte Ideen ausprobiert; 3. … der großspurig spielt etc. Da die Gefahr zu groß erschien, dass alles auf Xi Jinping passen könnte, der eine dritte Amtszeit anstrebt und der Städte wegen zweistelliger Omikron-Infektionen in Lockdowns schickt, musste sich Baidu umgehend für seine satirischen Algorithmen entschuldigen. „Jetzt dieser eine“ ist tabu geworden.

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