: Gehaltene Versprechen
PANTER PREIS Antje Krajci hat einem afghanischen Mädchen, das in Erfurt medizinisch behandelt wurde, eine Zeit lang ein Zuhause gegeben
■ Die Nominierten: Sechs KandidatInnen hat unsere Jury vorausgewählt. Der taz Panter Preis geht an Menschen, die sich mit großem Einsatz für andere starkmachen und mutig Missstände aufdecken.
■ Die Verleihung: Jedes Jahr werden zwei Preise verliehen. Den ersten vergibt eine taz-Jury, den Preis der Leserinnen und Leser vergeben Sie. Beide Preise werden am 15. September im Deutschen Theater Berlin verliehen.
■ Die Porträts: Ab sofort stellen wir jede Woche in der sonntaz einen Kandidaten oder eine Kandidatin vor, Antje Krajci ist die erste. Ab dem 4. August haben Sie die Möglichkeit, jene(n), der oder die Ihnen am preiswürdigsten erscheint, für den taz Panter LeserInnenpreis zu wählen – per Mail, per Post oder auf www.taz.de/panter.
VON JANNIS HAGMANN
Antje Krajci macht Urlaub am Gardasee, als es passiert. Als ein Lastwagen in Faisabad ein kleines afghanisches Mädchen überrollt. „Großes Auto bumm gemacht“, wird das Mädchen später erzählen.
Was genau sich an diesem Maitag vergangenen Jahres ereignete, weiß Antje Krajci nicht. Aber es erwischte die heute achtjährige Sara übel: die Beine zertrümmert, mehrfache Brüche, freie Knochen, die sich später entzündeten. Doch war es wirklich ein Lastwagen? Brach ein Feuer aus? Wurde sie gegen eine Hauswand geschleudert? Krajci hat den Aktenordner mit den Informationen nie durchgesehen.
Was zählte, war Saras Zukunft. Die Entscheidung, sie bei sich und ihrer Familie aufzunehmen, fällte die 38-Jährige einige Monate nach dem Unfall. Spontan, nach kurzer Rücksprache mit ihrer Familie. Die Hilfsorganisation Amyal hatte nach einer Gastfamilie gesucht, um dem Kind eine Behandlung im Katholischen Krankenhaus in Erfurt zu ermöglichen.
Das örtliche Hospital in Afghanistan hatte Sara nicht helfen können, auch nicht das Bundeswehrlazarett, in das sie ihr Vater, ein Lehrer in der Provinzhauptstadt Faisabad, wohl noch brachte.
Doch nun sollte es vorangehen. „Nur geradeaus“, sagt Krajci öfter, wenn sie über das letzte halbe Jahr mit Sara nachdenkt. „Alles schien praktisch zu sein bei uns“, erzählt Krajci. Ein großes Einfamilienhaus, zu großen Teilen barrierefrei, ein Auto, das Krankenhaus in der Nähe. Dort arbeitet Krajci in der Verwaltung, ihr Mann als Arzt.
Als Sara am 3. November 2011 am Flughafen ankommt, liegt sie in einer Bundeswehrtrage. Laufen kann sie nicht. „Armes Mädchen“, kommentiert Krajci ein Foto, das Sara am Flughafen zeigt. „Ich wurde ihr gleich als Pflegemutti vorgestellt“, erzählt sie.
Die ersten vier Tage verbringt Krajci, die zwei Töchter hat, fast komplett im Krankenhaus. Tag und Nacht. „Ich wollte, dass sie weiß, es ist immer jemand für sie da.“ Ihr Ehemann vermutet, dass das Kind traumatisiert war. „Sara hatte Schreiattacken bis zu zwei Stunden“, erzählt Krajci.
Am ersten Tag im Krankenhaus, als sie Saras nackte Beine sieht, wird ihr schlecht. „Ich hatte Gänsehaut und musste mich anlehnen, weil mir die Knie weich wurden“, erzählt sie. Sie bekommt Zweifel, ob das jemals etwas wird. Wie sollte Sara mit diesen Beinen je wieder laufen können? „Der linke Oberschenkel hing am seidenen Faden.“ Drei Zehen waren bereits in Afghanistan amputiert worden. Offene Fleischwunden an beiden Beinen.
„Sara, langsam!“, ruft Krajci ihrer Pflegetochter zu, als sie das erzählt. „Halt dich am Geländer fest und nimm das Eis in die andere Hand!“ Sara ist vom Schwimmbad wiedergekommen und läuft die Treppe hoch. Ohne Krücken. Es ist der letzte Tag vor ihrer Rückreise nach Afghanistan.
Nach einem halben Jahr in Erfurt, zuerst im Krankenhaus, später bei Familie Krajci zu Hause, spricht Sara fließend Deutsch. Auch Antje Krajci hat ein paar Worte Dari gelernt. „Primitivstes Dari“, meint sie. Für „essen“, für „müde“ kennt sie die Worte. Auch nach Saras Schmerzen kann sie auf Dari fragen. Interesse, die Sprache richtig zu lernen, hat sie aber nicht. Auch nach Afghanistan will sie nicht, wenn, dann nur um Saras Eltern kennenzulernen.
Für Krajci war es ein Projekt. Ein Projekt, das nun zu Ende gegangen ist, erfolgreich. „Wir haben alles erreicht, was wir erreichen wollten“, sagt sie trocken. „Wir haben alles Mögliche gegeben, aber ich muss zugeben: Unsere Kräfte sind erschöpft.“ Krajci freut sich, dass sie wieder mit ihrem Mann und ihren Töchtern Anna und Marie unter sich sein kann. Dass das Kinderbett in ihrem Schlafzimmer wieder weggeräumt werden kann.
Es klingt fast distanziert, wenn Krajci von ihrem Projekt erzählt. Wenn da nicht die Fotos wären, von Krajci und ihrer Pflegetochter, mal mit anderen Kindern, mal mit Pferden, mal mit geschminktem Gesicht. Wenn da nicht Sara wäre, die in Krajcis Armen liegt, die mit funkelnden Augen vom Urlaub auf dem Reiterhof erzählt.
Aber Krajci ist sich auch sicher: „Die Gefahr ist groß, dass sie sich zu sehr einlebt, dass sie zu deutsch wird.“ Eine Mutter wollte Krajci nicht sein für das Mädchen. „Am Anfang hat Sara es mal mit ‚Moda‘ probiert, aber ich hab ihr gesagt: ‚Deine Mama ist in Afghanistan, ich bin hier die Antje.‘“
Dass das Projekt gelang, dass Sara alle großen Operationen überstand und wieder laufen und lachen kann, ist vielen Menschen zu verdanken. Dem Chefarzt, der sie nicht mit zwei Beinen ein- und einem wieder ausreisen lassen wollte. Den Schwestern im Krankenhaus und den „Schlaf-Omis“, Patientinnen, die sich nachts das Zimmer mit Sara teilten, damit sie nicht allein schlafen musste. Dass Sara aber eine Familie fand, das ist Antje Krajcis Verdienst.
Ihre Motivation? Vielleicht, überlegt Krajci, ist es Solidarität unter Frauen. Denn sie hat einen Grundsatz: „Mädchen und Frauen sollte man helfen.“ Einen Jungen hätte sie nicht aufgenommen, sagt sie. Aber wenn sie es recht bedenkt, hat sie es einfach gemacht. Ohne viel nachzudenken. „Manches ist einfach so, und dann macht man es.“
Genauso spontan wie die Entscheidung, Sara aufzunehmen, teilte die Hilfsorganisation Krajci mit, dass Sara bald abreisen würde. Als sie Sara sagte, dass sie nun bald wieder zurückgehe, richtete Krajci einen Wunsch an das Mädchen: Sie wollte den Eltern in Afghanistan ein laufendes Kind übergeben. „Ich wollte, dass Sara ihren Eltern am Flughafen entgegenläuft.“ Sara hat es ihrer Pflegemutter versprochen.