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Archiv-Artikel

strafplanet erde: das jammern der individuen von DIETRICH ZUR NEDDEN

Nervensägender, alberner, insgesamt grauenvoller als das Gejammer, das angeblich überall grassiert, ist oft das Anprangern des Gejammers. Anders und durch die Blütenpracht meines Poesiealbums gesagt: Wenn zwei dasselbe tun, dann ist es nicht dasselbe. Der eine jammert, weil … Meistens jammert der gar nicht. Jedenfalls nicht in unserer Nähe.

Unmittelbar neben meinem Kontor, also in Hörweite, hat ein Berufsbetreuer sein Büro. In sozialstaatlichem Auftrag betreut er Menschen, denen irgendetwas dazwischengekommen ist, zwischen sich und dem Großenganzen. Deshalb wurde ihnen die Geschäftsfähigkeit entzogen. Neulich fragte der Betreuer einen seiner Klienten am Telefon: „Haben Sie denn genug zu essen?“ Mag sein, dass der Klient die Stütze verjubelt hat, mag sein, dass er die Tassen in seinem Schrank eigenhändig zerdeppert hat – der Einzelfall ist hier unerheblich, sogar eingedenk des Bonmots Margaret Thatchers: „Ich kenne keine Gesellschaft, sondern nur Individuen.“

Dann wieder begegnet man einem, der jammert, weil er, finanziell dermaßen an der Kante, den Dritturlaub canceln muss, denn der Zweitwagen braucht schickere Felgen und ein neues Navigationssystem. Der verdient, vorsichtig formuliert, was auf die Fresse, und zwar umso schwungvoller, wenn er das Wort canceln benutzt. Ich hab gut reden. Die Lizenz zum Jammern wurde mir vor Jahrzehnten verliehen kraft des Bekenntnisses eines Namensverwandten: „Solange ich mich erinnern kann, habe ich schlechte Laune“, lautete das einwandfrei konjunkturunabhängige Statement DeeDee Ramones von den Ramones. „Okay“, meinte Albert, der Dauerkrittler, „Wenn DeeDee Ramone das gesagt hat, dann ist das verständlich. Die Gründe liegen auf der Hand, selbst wenn wir außer Acht lassen, dass die Äußerung der Imagepflege gedient haben mag. Der Mann war Bassist, ein Job, dessen Status im Rock-’n’-Roll-Diskurs mit dem des Bratschisten im Symphonie-Orchester vergleichbar ist; zweitens war er Punk. Und tot ist er inzwischen auch. Überdosis Heroin. Aber du …?“

Wie ich sie liebe, Albert und seine Einwände aus dem vollklimatisierten Saftspeicher der Schlaumeierei! Der verdarb mir nicht die gute Laune! Zumal ich blitzmerkte, dass ihm der Schwachpunkt meiner schwachsinnigen Argumentation entgangen war. Ihm, aber nicht seiner Freundin Simone: „Albert, hör mir zu. Sind etwa Jammern und schlechte Laune dasselbe? Oder wenigstens das Gleiche? Ich meine, einer, der schlecht gelaunt ist, jammert nicht zwangsläufig. Der schnürt die schlechte Laune vielleicht in ein Korsett, Albert, der verhüllt sie, der kapselt sie ein. Der beklagt sich nicht, der hat einfach nur schlechte Laune.“

Augenblicklich reiße ich das wackelnde Gebäude ein, gestehe, dass DeeDee Ramone ein Künstlername ist. Das ist noch nicht alles. Unser Gespräch hat gar nicht stattgefunden, wie der gewiefte Kolumnenleser und die ohnehin gewieftere Kolumnenleserin längst vermutet hat. Nur Van Morrison war das entgangen. Er sagte in einem seiner seltenen Interviews: „If I sound bitter, then I sound bitter. Maybe I’m entitled to feel bitter.“ Ein Mann (und was für einer!), ein Wort.