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Sensibilität als Zivilisationsmotor

In ihrem Buch „Sensibel“ zeichnet die Autorin Svenja Flaßpöhler Entwicklungslinien nach, die zu heutigen Identitäts-, Gender- und Zumutbarkeits­diskursen geführt haben

Von Katharina Granzin

Es ist kompliziert mit der menschlichen Empfindungsfähigkeit. „Sensibilität“ wird heutzutage allgemein als wünschenswerte Eigenschaft betrachtet, aber ein „Sensibelchen“ möchte niemand gern genannt werden. „Empfindsam“ zu sein wiederum liegt im Gefühlsranking fast mit der Sensibilität gleichauf (wobei letztere im Unterschied zu ersterer auch soziale Konnotationen besitzt); wer aber „empfindlich“ ist, hat der Empfindungen vielleicht schon zu viele.

Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, durchwandert in ihrem neuen Buch einen kultur- und geistesgeschichtlichen Parcours vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart, um zu verfolgen, wie die Empfindungsfähigkeit und ihre sozialen Funktionen sich entwickelt und im Laufe der Jahrhunderte gewandelt haben.

Ein wichtiger Begleiter dabei ist Norbert Elias, der in „Über den Prozess der Zivilisation“ gezeigt hat, wie die Verfeinerung der Sitten, mithin die zunehmende Sensibilisierung für ein auskömmliches Miteinander, einherging mit der Notwendigkeit der Triebunterdrückung. Flaßpöhler beginnt den historischen Parcours mit dem amüsanten Vergleich zweier fiktiver Lebensgeschichten und stellt einen Ritter Johan aus dem 11. Jahrhundert, der hemmungslos seine körperlichen Triebe ausagiert und das gewohnheitsmäßige Ausüben brutaler Gewalt als sein gutes Recht betrachtet, einem heutigen Jan gegenüber, der vegetarisch lebt, seine Kinder gewaltfrei und gleichberechtigt mit seiner Frau erzieht und nicht Auto fährt, weil das dem Klima schadet.

Und wenn Johan und Jan insgesamt auch satirisch überzeichnete Figuren sind, so gelingt es der Autorin mit ihrer kleinen Geschichte doch, auf einen Schlag zu verdeutlichen, was Norbert Elias auf tausend Seiten herausgearbeitet hat: Wie weit die abendländische Gesellschaft tatsächlich schon gekommen ist.

Svenja Flaßpöhler: „Sensibel“. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 240 S., 20 Euro

Eigentlich. Andererseits hatte Flaßpöhler bereits auf der ersten Seite für unsere heutige Situa­tion festgestellt: „Offenbar sind wir mehr denn je damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren.“ Und deswegen trifft dieses Buch, das mit seinem Querschnitt durch vorherige Justierungsbewegungen auch unsere heutigen Bemühungen erhellt, einen wichtigen Nerv der Zeit.

Gestiegene Sensibilität als Zivilisationsmotor: Dieser Zusammenhang lässt sich ganz besonders für das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der Empfindsamkeit“ feststellen, das auch einen enormen Aufschwung für die Literatur brachte. Das Verbalisieren von und vor allem das Schreiben über Gefühle öffnete das Denken der Menschen für andere Sichtweisen. Männer schrieben Romane über Frauenschicksale, Frauen begannen zunehmend selbstbewusst ihre Menschenrechte einzufordern – die artikulierte Empfindsamkeit bewirkte viel für die Idee der freien Entfaltung des Individuums und das politische Ideal der bürgerlichen Gleichheit.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist es dann Sigmund Freud, der in Gesprächen jenem inneren Prozess der Triebunterdrückung, den Norbert Elias als Zivilisationsbedingung beschreibt, auf den Grund geht, um verdrängte Gefühle freizulegen und dadurch Heilung der durch Neurosen versehrten Psyche zu erreichen. „Das Archaische in uns ist für Freud“, schreibt Flaßpöhler, „mit der Kraft der Resi­lienz tief verbunden.“ Resilienz ist der zweite, der Sensibilität entgegenstellte Schlüsselbegriff – wohlgemerkt nicht als ihr „kaltes“ Gegenteil verstanden, sondern als eine Möglichkeit der Krisenbewältigung.

Dass Sprechen, dass Sprache generell etwas bewirkt, etwas tut mit dem Menschen, ist im Kielwasser des philosophischen linguistic turn im 20. Jahrhundert längst Teil des allgemeinen Bewusstseins geworden. In diesem Kontext stehen unsere zeitgenössischen Diskurse mit ihren Identitäts- und Gleichberechtigungsdebatten, ihren, je nach Sichtweise, Sensibilitäten und Empfindlichkeiten.

Die #MeToo-Bewegung, zu der sie sich streitbar geäußert hat, berührt sie nur am Rande

Svenja Flaßpöhler stellt diesen Zusammenhang deutlich genug dar, macht aber auch keinen Hehl daraus, dass sie allzu starre Sprachregelungen im Sinne der „von ihren Gegnern so genannten political correctness als Rückfall in ein zu strenges strukturalistisches Denken betrachtet, das jedes Zeichen in expliziter Abgrenzung zu anderen Zeichen definiert, während der Poststrukturalismus doch schon längst das sprachliche Zeichen – und damit den Menschen – von solch rigider Festlegung befreit hat.

Flaßpöhler beruft sich vor allem auf Judith Butler, die auf der Veränderlichkeit der Zeichen beharrt. „Dem Kampf um Bezeichnungen“, schreibt Flaßpöhler mit Butler im Rücken, „wohnt die Dialektik inne, dass er festschreibt, anstatt Identitäten spielerisch aufzulösen, beziehungsweise als rein performativ zu entlarven.“

Die #MeToo-Bewegung, zu der Svenja Flaßpöhler sich zu früherer Gelegenheit streitbar geäußert hat, berührt sie in „Sensibel“ nur am Rande. Polemik hat in diesem Buch keinen Platz; die Autorin lässt zwar Meinungsstärke erkennen, wo es mal passt, beharrt jedoch nicht auf eigenen Argumentationsketten, sondern ist sehr bemüht um die Integration unterschiedlicher Perspektiven. Das ist schließlich auch eine Frage der Sensibilität.

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