: „Es war nicht wie beim verlorenen Sohn“
Ludwig Baumann kämpft seit Jahrzehnten um die Würde der Deserteure. Seit 2002 sind sie offiziell rehabilitiert, doch Orte des Gedenkens gibt es kaum. Seit dem Konflikt um die Gedenkstätte Torgau fürchtet der gebürtige Hamburger das Vergessen – während die letzten Deserteure allmählich sterben
Ludwig Baumann holt Unterlagen, immer mehr, bis der Küchentisch ganz weiß ist. „Es ist zu viel“, möchte man sagen. Aber natürlich glaubt dieser Mann an Gedrucktes. Ein Papier hat ihn davor bewahrt, als Deserteur hingerichtet zu werden. Ein Gesetz hat 2002 nach jahrzehntelangem Kampf die deutschen Deserteure rehabilitiert.
Nun ist es wieder ein Text, der ihn umtreibt. Eine Ausstellungstafel in der sächsischen Gedenkstätte Torgau, die für Baumann „Gestapo und SD-Leute zu Opfern“ macht. Weil sie alle Insassen des sowjetischen Lagers nach 1945 von NS-Kriegsverbrechen freispricht. Und damit auch jene Richter, die die Deserteure in Torgau vernommen haben und anordneten, dass sie zur Abschreckung bei den Erschießungen zusehen mussten. Ludwig Baumann ist ein schmaler, weißhaariger Herr. Er ist 83 Jahre alt. Aber bei der Eröffnung der Gedenkstätte hat er sich an den Ordnern vorbei ans Mikrofon gedrängt und gesagt: „Wir werden das Museum so nicht akzeptieren“. Denn sonst stünde er wieder ganz am Anfang.
Der Kampf um die eigene Würde braucht nicht unbedingt viel Platz. Baumann hat dafür den Küchentisch und ein kleines Zimmer am Ende des Flurs. Die Unterlagen liegen in Plastikhüllen eingeordnet im Regal, genau Kante auf Kante. Zwei Meter weiter sind die Stofftiere aufgereiht, die er für seinen Sohn aufbewahren soll. Einer der Bären ist 40 Jahre alt, fast so alt wie der Sohn.
Es gibt zwei Stränge in der Geschichte von Ludwig Baumann, einen privaten und einen öffentlichen und es ist schwierig, sie auseinander zu halten. „Ich wusste nicht, dass ich traumatisiert war“, sagt Baumann und manchmal meint er damit das Todesurteil nach der Desertion und manchmal scheint er sein gesamtes Leben zu meinen, bis zu jenem Punkt, als er das Trinken aufgibt und die Schuldgefühle. Sich zumindest um so viel weniger schuldig fühlt, dass er ohne Betäubung auskommt.
Er ist in Hamburg aufgewachsen, bei Eltern, die sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet haben. Der Vater ist Tabakgroßhändler. In Ludwig Baumanns Wohnzimmer hängen einige der alten Familienfotos, aber er selbst ist nicht darauf zu finden. Ein Foto vom Vater, der entschlossen aussieht, mit einer Zigarre in der Hand, und eines von den Eltern mit seiner Schwester Gertrud. „Ich bin im Bauch meiner Mutter“, sagt Baumann und tippt mit dem Finger auf die Stelle. „Wärst du bloß ein Mädchen geworden und Gertrud ein Junge“, sagt sein Vater zu ihm, weil er so wenig der tüchtige Sohn ist, den er sich erwartet hat. Baumann ist Legastheniker zu einer Zeit, als es dafür noch gar keinen Begriff gibt. „Meine Mutter musste mich für dumm und dickfellig halten“, sagt er, als müsse er sie vorsichtshalber in Schutz nehmen. Als er 15 Jahre alt ist, stirbt sie bei einem Verkehrsunfall. Da ist er schon ein Jahr in der Maurerlehre, in die ihn ein Vater geschickt hat. 1940 wird er in die Marine einberufen.
„Ich bin furchtbar angeeckt“, sagt er, weil er nicht einsieht, dass er die Stiefel seiner Vorgesetzten putzen muss. Man schickt ihn zur Hafenkompanie nach Bordeaux, wo es nicht viel zu bewachen gibt, aber wo er Freundschaft mit den französischen Wachleuten schließt. Er sieht die Bilder russischer Kriegsgefangener in der Wochenschau, er sieht, wie sie auf dem freien Feld liegen und weiß, dass nichts von den deutschen Kleidersammlungen jemals zu den Russen gelangen wird. „Wir wollten es nicht mitmachen“, sagt er. „Wir wollten einfach leben. Da kam der Gedanke abzuhauen“, sagt Baumann, aber er weiß nicht mehr, ob er von ihm stammte oder von den Franzosen. „Jetzt muss ich etwas sagen“, meint er plötzlich. „Je mehr ich erzähle, desto routinemäßiger erzähle ich es“. Und es stimmt, er erzählt es, wie man Geschichten erzählt, die schmerzhaft sind, aber lange vorüber und so oft erzählt, dass sie abgeschliffen sind wie Steine vom Meer.
Ludwig Baumann stiehlt mit seinem Freund Karl Oldenburg Gewehre, die französischen Wachleute bringen sie auf einem Lastwagen an die Grenze, wo die Deutschen Frankreich noch nicht besetzt haben. Vor ihnen taucht eine deutsche Zollpatrouille auf, Baumann hätte ihnen leicht in den Rücken schießen können, aber er tut es nicht. Sie werden festgenommen und als Deserteure zum Tod verurteilt. Das Verfahren dauert 40 Minuten. Doch Baumanns Vater, der Tabakgroßhändler, hat über einen Geschäftsfreund Beziehungen zu einem Großadmiral und schreibt ein Begnadigungsgesuch. Dem wird stattgegeben, aber Baumann erfährt es in seiner Todeszelle erst acht Monate später. Man verschweigt es ihm, weil er gemeinsam mit spanischen Geiseln einen Ausbruchsversuch geplant hat. Das Urteil wird in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt. Baumann wird nach Torgau verlegt und dann zu einem Strafbataillon nach Weißrussland geschickt. Die meisten von ihnen kommen dort um, darunter auch Karl Oldenburg.
Nach dem Krieg kehrt Ludwig Baumann nach Hamburg zu seinem Vater zurück. „Es war nicht wie beim verlorenen Sohn“, sagt er. „Wir haben uns nicht umarmt“. Er spricht sonst nie von Religiösem. Vielleicht ist es nur die Figur, die er im Kopf hat, wenn er über Schuld und Vergebung nachdenkt. Und gleichzeitig sagt er, dass er sich damals offen bekannt habe zu seiner Flucht. In den Kneipen, wo er die Leute freigehalten hat, weil er der Tabak zur Hauptwährung geworden ist. Seinem Vater werfen die Leute trotzdem die Scheiben ein. „Ich habe meine Besitz vertrunken wie irre“, sagt Baumann „Ich habe mein Trauma nicht erkannt. Ich konnte mich nicht ausdrücken“.
Er heiratet, geht nach Bremen. Bei der Geburt des sechsten Kindes stirbt seine Frau. „Ich bin erst danach auf die Füße gekommen“, sagt Baumann. Aber sie sind wackelig. Er verkauft Radios an den Haustüren und zuhause und manchmal trinkt er noch. An solchen Tagen steht er morgens nicht auf, es ist der Älteste, der dann die Kleinen für die Schule anzieht. Der Zweitjüngste kommt dann in der Pause nach Hause, um zu sehen, ob Baumanns Mantel auf dem Balkon zum Lüften hängt – dann ist er in der Nacht zurückgekommen. Es ist auch der Zweitjüngste, der später Probleme haben wird, der „zum Teil kein eigenes Leben hatte“, wie Baumann sagt. Als könne man die Traurigkeit erben.
Als ihm die Rente nicht genügt, wird Baumann Mitarbeiter beim Bremer Jugendamt. Einige der Kollegen dort sind politisch engagiert, einige DKP-Mitglieder. Baumann findet über sie zur Friedensbewegung und schließlich zu einer Gruppe, die ein Denkmal für die Deserteure des Zweiten Weltkriegs errichten will. „Du bist der einzige Zeitzeuge“, sagen sie zu Baumann bei ihrem Treffen. „Du musst etwas tun“. Baumann lädt zu einem Gründungstreffen für einen Verband der Opfer der NS-Justiz ein. 37 alte Männer kommen, nur zwei von ihnen können noch aus eigener Kraft gehen. Einige weinen. Aber am Ende haben sie eine Satzung und ein Ziel: Ihre Würde wiederherzustellen. „Es geht nicht um Ehre, sondern um Würde“, sagt Baumann. „Das ist ein Unterschied“.
Man kann einen solchen Kampf auch vom Küchentisch aus führen. Ohne e-mail Anschluss. Mit einem kleinen Zettel an der Wohnungstür in Bremen-Vegesack, geschrieben von Baumanns Enkelin in runder Schrift: „Sprechstunde: Vor 8 und zwischen 13 und 15 Uhr bitte nicht stören“. Die Reporter der großen Zeitungen kommen trotzdem, die Fernsehteams und auch die Einladungen in die Talkshows. Es kommen auch die Schmähbriefe an den „Volksschädling Baumann“, unterschrieben mit „Deutschem Gruß“.
Es finden sich bekannte Historiker, die im Beirat des Verbands der Opfer der NS-Justiz arbeiten möchten. Sie fragen, warum unter den Briten nicht ein einziger Deserteur hingerichtet wurde. Und sie möchten wissen, warum es strafbar sein soll, sich einem Angriffkrieg wie dem Hitlers zu entziehen. Aber die Debatte rührt an ganz andere Fragen. Die Politiker der CDU und FDP finden, dass durch eine Rehabilitierung der Deserteure die übrigen Wehrmachtssoldaten ins Unrecht gesetzt würden. Als die SPD an die Regierung kommt und selbst Kriegseinsätze verantwortet, erlahmt ihr Engagement für Baumanns Sache. Schließlich gelingt es, als die PDS den ehemaligen Entwurf der SPD einbringt. Im Jahr 2002, genau 60 Jahre nach Ludwig Baumanns Desertion hebt der Bundestag die NS-Urteile gegen die Deserteure auf. Allerdings nicht jene, die „Kriegsverrat“ begangen haben. Übergelaufen sind oder die Zivilbevölkerung gewarnt haben. In Buchenwald wird ein Gedenkstein für Deserteure aufgestellt. Der Bundestag beauftragt die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden“, ein Konzept zu erstellen, wie man der Deserteure gedenken könne. Es soll eine Wanderausstellung und ein Denkmal geben. Die Kulturstaatsministerin beantwortet Baumanns Nachfragen nach dem Denkmal nur ausweichend. Aber kürzlich hat man ihm mitgeteilt, dass die Mittel für die Wanderausstellung bereitstünden. Es gibt sogar ein Konzept. Aber immer dann, wenn Baumann die Einladungen zur Mitgliederversammlung verschickt hat, kommen Briefe zurück. „Adressat verstorben“ steht dann darauf. Friederike Gräff