: „Über Sex zu reden ist nicht selbstverständlich“
40 JAHRE PRO FAMILIA Seit 1969 bietet Pro Familia Hamburg Sexualberatung an. Ging es anfangs darum, die Tabuisierung von Verhütung zu überwinden, sorgen jetzt pränatale Diagnostik und Fortpflanzungstechnologie für neuen Beratungsbedarf
Studierte in Freiburg/Breisgau und ist diplomierte Sozialpädagogin. Seit 1976 arbeitet sie für den Hamburger Landesverband von Pro Familia. Ihr Schwerpunkt ist die Sexual- und Partnerschaftsberatung.FOTO: HEIKE GÜNTHER
INTERVIEW UTA GENSICHEN
taz: Frau Rethemeier, wie haben die Hamburger Pro Familia im Gründungsjahr 1969 aufgenommen?
Annette Rethemeier: Es gab bereits eine ähnliche Institution, die von der Frauenzeitschrift Constanze gegründet worden war. Dieses „Zentrum für Geburtenregelung“ wollte es Frauen ermöglichen, einen für sie persönlich richtigen Weg zu bewusst verantworteter Elternschaft zu finden.
Wie verhüteten die Frauen der 60er Jahre?
In Deutschland gab es zwar die Pille, aber die durfte nur an verheiratete Frauen verschrieben werden. Es herrschte eher ein Mangel an sicherer Verhütung, aber auch an Informationen über mögliche Alternativen. Nach einigen Jahren trat Constanze dann an den neu gegründeten Landesverband von Pro Familia heran, um das Zentrum in eine Beratungsstelle umzuwandeln.
Mit welchen Themen beschäftigte sich Pro Familia in ihren Gründungsjahren?
Die Verhütungsberatung war schon immer ein Schwerpunkt. Damals war es noch etwas Besonderes, weil alles, was mit Sexualität und ihren möglichen Folgen zu tun hatte, weitgehend tabu war. Bei unseren ÄrztInnen war die nötige Anonymität und Vertraulichkeit gewährleistet. Zu niedergelassenen FrauenärztInnen konnten junge Frauen ohne die Zustimmung der Eltern nicht gehen.
Welche Rolle spielte in den 70er Jahren die Diskussion um den Schwangerschaftsabbruch?
Es war das zentrale Thema des Verbandes. Mit der gesetzlichen Neuregelung, die, nach heftigen Debatten, 1976 in Kraft trat, hatte sich der Staat verpflichtet, flächendeckend für Beratungsmöglichkeiten zu sorgen. Deshalb entstanden auch in Hamburg neue Pro Familia-Beratungsstellen. Die wurden sehr stark in Anspruch genommen.
Welche Fragen hatten die Frauen in den 80er und 90er Jahren?
Zum einen alles, was mit Schwangerschaftsabbruch zu tun hatte. Es gab zunächst zu wenige Möglichkeiten für einen medizinisch kompetent und zugleich respektvoll durchgeführten Abbruch. Daher richteten wir 1982 zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt das Familienplanungszentrum quasi als Modell ein.
Und wie stand es um die Verhütung?
Die Nachfrage nach Verhütungsmitteln veränderte sich in dieser Zeit deutlich. Die Pille war wegen ihrer Nebenwirkungen in Verruf geraten. Und durch die neu entstandenen Frauenselbsthilfegruppen wuchs das Interesse an unschädlichen Methoden, zum Beispiel mit natürlicher Familienplanung und Verhütung mit dem Diaphragma.
Wie hat Pro Familia auf dieses Interesse reagiert?
Die Nachfrage stieg derartig, dass wir regelmäßig Gruppenangebote gemacht haben. Aber die 80er und 90er Jahre waren auch eine Zeit, in der Themen wie sexuelle Gewalt und Aids zunehmend in den Vordergrund rückten.
Sexualität bekam etwas Bedrohliches.
Deshalb haben wir die sexualpädagogische Arbeit verändert und ausgeweitet. Wir wollten das Thema Sexualität nicht nur unter dem Etikett der Verhinderung von Katastrophen vermitteln.
Zwanzig Jahre später – ist Verhütung für Pro Familia heute überhaupt noch ein Thema?
Unbedingt. Uns beschäftigt etwa die Versorgung mit der „Pille danach“ oder der „Spirale danach“. In anderen europäischen Ländern gibt es die „Pille danach“ rezeptfrei in jeder Apotheke. Bei uns müssen Frauen sich untersuchen und ein Rezept ausstellen lassen. Das kostet Zeit und Geld …
… das viele Frauen nicht haben.
Hinzu kommt, dass seit 2005 die Kosten für verordnete Verhütungsmittel nicht mehr erstattet werden – sogar, wenn die Frauen vom Existenzminimum leben müssen. Dadurch riskieren sie eine ungewollte Schwangerschaft.
Und wie steht es um die Finanzierung Ihrer Arbeit? Ist Pro Familia von Sparzwängen betroffen?
Probleme gab es immer. Unsere finanzielle Basis ist das Schwangerschaftskonfliktgesetz, mit dem ein großer Teil unserer Arbeit, nicht nur die unmittelbare Schwangerschaftskonfliktberatung, abgedeckt ist. Aber der Bedarf ist größer, als wir ihn mit unseren jetzigen Mitteln decken können – zum Beispiel in der Beratung rund um Schwangerschaft, Geburt und Elternschaft.
Thema der Auftaktveranstaltung am Montag, 21. September ist „Migration: Selbstbestimmung in Lebensweg und Sexualität“.
■ Die Podiumsdiskussion am gleichen Tag findet mit den Integrationsbeauftragten aller Bürgerschaftsfraktionen statt.
■ Bis zum 25. September präsentiert Pro Familia mehrere Vorträge, Filme und Diskussionen im Kino 3001, Kino Abaton sowie im Beratungszentrum in der Seewartenstraße.
■ Mehr Informationen unter www.profamilia-hamburg.de
Wie wird das Problem gelöst?
Es ist nicht gelöst. Wir haben zwar einen Förderverein, der Mittel für die sexualpädagogische Arbeit sammelt und damit zwei Drittel der aktuellen Arbeit finanziert. Und seit dem 1. Juli werden unserem Landesverband diese Stellen für ein Jahr von der Hansestadt finanziert. Aber der Bedarf ist damit nicht gedeckt.
Ist die Nachfrage nach Sexualberatung denn so groß? Sex wird doch ständig und überall thematisiert.
Glücklicherweise ist es heute sehr viel leichter, an Informationen zu kommen. Die Schulen leisten gute Arbeit und es gibt Beratungsmöglichkeiten über das Internet, auch durch Pro Familia. Gleichzeitig gibt es noch viel Halbwissen und falsche Informationen. Und nach wie vor ist es keine Selbstverständlichkeit, über eigene sexuelle Fragen oder Probleme zu reden, in keinem Alter.
Welche gesellschaftlichen Entwicklungen kommen auf Sie und uns zu?
Es gibt Gruppen in unserer Gesellschaft, für die der Zugang zu Informationen rund um Sexualität, Verhütung und Schwangerschaft schwierig ist, zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Behinderungen. Auch entstehen durch neue medizinisch-technische Möglichkeiten neue Fragen und Probleme, etwa im Bereich der pränatalen Diagnostik oder der Fortpflanzungstechnologie.
Was wünscht sich Pro Familia für die nächsten 40 Jahre?
Wir wünschen uns, dass Frauen und Männer, unabhängig von Herkunft, Alter oder Status im Bereich der Sexualität und Partnerschaft Zugang zu guten Informationen und Dienstleistungen bekommen und dass sie ihre Rechte selbstbewusst in Anspruch nehmen.
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