ANDREAS FANIZADEH LEUCHTEN DER MENSCHHEIT : Komm und sieh – Jonathan Littells syrische Tagebücher
Ohne Engagement und Recherche vor Ort würden die Lügen des Assad-Regimes siegen. Die „Notizen aus Homs“ stellen sich den syrischen Staatsterroristen entgegen
Diese Notizen erstatten Bericht über einen Moment, der quasi ohne Zeugen von außen stattgefunden hat: die letzten Tage der Erhebung eines Teils der Stadt Homs gegen das Regime Baschar al-Assads.“ Dringlicher kann ein Augenzeugenbericht aus Syrien derzeit kaum überschrieben sein. Jonathan Littells „Notizen aus Homs“ sind vorab als E-Book im Hanser.Berlin Verlag erschienen, die Printfassung gibt es ab 27. August.
Jonathan Littell, französischer Schriftsteller amerikanischer Herkunft, wurde 2006 mit seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ weltberühmt. Darin beschäftigte er sich aus der Perspektive eines Täters, des deutschen SS-Offiziers Maximilian Aue, mit den Gewaltexzessen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust.
Vom 16. Januar bis 2. Februar dieses Jahres befand sich Littell nun undercover in Syrien. Zusammen mit seinem Übersetzer und Fotografen Mani reiste er heimlich in die syrischen Bürgerkriegsgebiete, um als Journalist für Le Monde in einer fünfteiligen Reportageserie zu berichten. Nun erscheinen die zwei Notizhefte über die damaligen Reise. In „treuestmöglicher Transkription“, so Littell, bieten sie eine tagebuchartige Chronik, „über einen kurzen und bereits verschwundenen Moment“ des Aufstands in Homs, der, während Littell schrieb, noch andauerte und schließlich „in einem Blutbad ertränkt wurde“.
Durch Mittelsmänner der Freien Syrischen Armee (FSA) ist Littell über Beirut und das libanesische Gebirge in das von Assad-Truppen belagerte Homs gelangt. Sein Schleuser, Deckname „Der Zorn“, „tut es nicht wegen des Geldes (seine Familie ist wohlhabend), er ist kein Schmuggler“. „Der Zorn“ arbeitet für die FSA, die größtenteils aus Deserteuren der regulären syrischen Armee besteht. Soldaten, die sich weigerten, auf Zivilisten zu schießen, und die nun als vogelfrei gelten: wen die syrische Staatssicherheit erwischt, der wird ermordet und zuvor in der Regel bestialisch gefoltert. Logisch, dass die Deserteure kämpfen.
Littell beschreibt eine beeindruckende, in Teilen der Bevölkerung tief verwurzelte Struktur der FSA, ohne die sie gegen die übermächtigen Assad-Truppen keine Chance hätte. Und überall wie in der Stadt Kusair und später in Homs trifft er auf Dokumente schrecklicher Gräueltaten von Assads Banden sowie unübersichtliche Frontverläufe. Guerilla- und Antiguerillakrieg haben ihre eigene Logik.
Jagd auf Augenzeugen
„Besser nicht auf der Straße das Notizbuch zücken. Die Leute werden sofort paranoid“, notiert Littell. Das Misstrauen ist groß, wo jeder Fremde ein Geheimdienstler sein könnte. Und auf der anderen Seite macht das syrische Regime regelrecht Jagd auf journalistische Augenzeugen. Vor Littells Ankunft in Homs war am 11. Januar der (noch mit einem Pressevisum eingereiste) französische Fernsehreporter Gilles Jacquier getötet worden. Ende Februar trafen Assads Raketen dann die US-amerikanische Journalistin Marie Colvin sowie den französischen Fotografen Rémi Ochlik.
Littell, der seit 1993 und seit den Balkankriegen in vielen Krisengebieten tätig war, ist sich des Risikos der Reise bewusst. Doch ohne Engagement und Recherche vor Ort würde die Lüge siegen. Mit seinen „Notizen aus Homs“ stellt er sich der Propaganda des Staatsterroristen aus Damaskus entgegen. Je länger dieser Bürgerkrieg dauert, das sagen sämtliche namhaften syrischen Autoren wie auch Rafik Schami oder die kürzlich exilierte Samar Yazbek, umso stärker droht die Libanonisierung, die ethnisch-religiöse Zerstückelung des Landes. Assad setzt längst auf diese Karte, zu schwach, die Aufständischen zu besiegen, zu stark, um ohne äußere Hilfe besiegt zu werden.
„Zwischen Untätigkeit“, sagte Littell letzte Woche im Gespräch, „und einer bewaffneten Invasion spannt sich jedoch eine große Bandbreite möglicher diplomatischer und militärischer Maßnahmen: ein Computerkrieg gegen die syrischen Sicherheitssysteme, gezielte Luftschläge, logistische Hilfe für die Revolution, eine totale Blockade gegen das Regime.“ Man habe immer eine Option, egal was Assads russische Freunde sagen: „Die Russen haben Respekt vor Stärke. Jedes Zögern und Taktieren nutzen sie, um Einfluss zu nehmen.“
Auch Pazifisten und Antiimperialisten müssen sich die Frage gefallen lassen, wie man sich denn gegen ein völkermordendes Regime zur Wehr setzen kann. Dass sich die Aufständischen die Leichen alle selbst vor die Tür legen, dass Syrien ohne Assad im Chaos versänke, dass können nur die Todenhöfers glauben. Lest die „Notizen aus Homs“.
■ Andreas Fanizadeh leitet das Kulturressort der taz Foto: privat