Menschen mit Assistenzbedarf in Berlin: Gefährlicher Protest
Das Bündnis Selbstbestimmt leben kämpft für Autonomie bei der Auswahl der AssistentInnen. Mitglieder haben sich zum Protest auf die Straße gelegt.
Davor hatten sie sich vor dem Martin Gropius Bau zuvor versteckt, bis Birgit Stenger, leitende Aktivistin an diesem Morgen, den Startschuss gab und mit ihrem Rollstuhl als erste die Straße überquerte und vor das Abgeordnetenhaus fuhr. Alle gemeinsam protestieren sie nun, auf dem Boden liegend, Banner haltend, im Rollstuhl sitzend und pfeifend vor dem Gebäude, um ihrer Forderung nach einer gerechteren Bezahlung der Assistenzkräfte auf besondere Art Nachdruck zu verleihen. Die Adressatin ihres Protests: Elke Breitenbach, Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales (Die Linke), die drinnen, im Abgeordnetenhaus, gerade im Sozialausschuss sitzt.
Die Aktion des Bündnis entfaltet auf den zweiten Blick ihre volle Kraft: Hier liegen Menschen, die nicht einfach von der Polizei weggetragen werden können, weil das Verletzungsrisiko viel zu hoch wäre. Sie sind konsequent: „Wir bleiben solange hier, bis Elke Breitenbach herauskommt“, sagt Stenger. Rundherum stehen etliche Assistenzkräfte und halten Schilder mit der Aufschrift „Kein Aus für das Arbeitgeber:innenmodell“ in die Höhe. Denn die Aktivist:innen des Bündnisses befürchten, dass sie bald nicht mehr selbst entscheiden können, wer sie im Alltag unterstützt.
Menschen mit Assistenzbedarf benötigen im alltäglichen Leben Persönliche Assistenz. Entweder beziehen sie die Assistent:innen über einen Assistenzdienst, oder sie stellen sie über das Arbeitgeber:innen-Modell selbst an. Dieses Modell will das Bündnis retten. Denn das Arbeitgeber:innen-Modell wird finanziell zunehmend unattraktiv für Arbeitnehmer:innen in diesem Bereich, da die Assistenzdienste seit Juli 2019 einen Tarifvertrag abgeschlossen haben. Seitdem werden diejenigen, die bei einem Pflegedienst angestellt sind, im Vergleich besser bezahlt als diejenigen Assistent:innen, die direkt bei Menschen mit Assistenzbedarf anstelltet sind. Jetzt verlieren die Arbeitgeber:innen dadurch Arbeitnehmer:innen, das von ihnen bevorzugte Modell ist damit in Gefahr.
Selbst entscheiden, wer unterstützt
Das Dilemma der ungleichen Bezahlung für gleiche Arbeit konterkariere grundsätzlich das Selbstbestimmungsrecht, sagt das Bündnis. Sie wollen selbstbestimmt entscheiden, wer ihnen assistiert. Die Aktivist:innen empfinden des außerdem als übergriffig, dass Assistenzdienste ihre Arbeit komplett dokumentieren müssen – und damit indirekt auch auflisten, wie sie ihren Alltag verbringen. Bei den direkt anstellten Assistent:innen besteht diese Dokumentationspflicht nicht. Um dieser Bevormundung durch Assistenzdienste zu entgehen und gegen die Ungleichbehandlung zu kämpfen, liegen sie heute hier und fordern einen Dialog mit Senatorin Breitenbach.
Auf dem Platz umkreisen Sicherheitskräfte und Polizist:innen das Geschehen, sie nehmen schließlich die Lautsprecher weg, es ist von Räumung die Rede. Rund Hundert Menschen haben sich mittlerweile zusammengefunden. Zwischen den Aktivist:innen befinden sich auch Mitglieder des Ver.di-Landesverbands und verteilen Flugblätter. Sie sagen, sie seien als „solidarische Delegation“ gekommen, die die Aktivist:innen zu einem Interessenaustausch über einen möglichen Tarifvertrag für das Persönliche Budget einladen wollen. Das Bündnis reagiert erst mal zurückhaltend auf diesen Annäherungsversuch. Ivo Garbe, ver.di Gewerkschaftssekretär, schlägt einen ähnlichen Tarifvertrag wie bei den Assistenzdiensten vor, um die Selbstbestimmung von Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen zu sichern.
„Elke, komm raus!“, tönt es von Seiten des Bündnisses. Die Aktivist:innen bleiben unbeirrt bei ihrer Forderung. Dann kommt die Senatorin tatsächlich nach ihrer Sitzung aus dem Gebäude und die Polizist:innen tragen die Lautsprecher der Aktivist:innen wieder vor die Menge. „Frau Breitenbach, ich möchte nicht als persönliche Assistentin auf der Straße landen“, ruft eine Aktivistin.
„Sie hätten es einfacher haben können“, betont Breitenbach ihre Dialogbereitschaft. „Es gibt eine sehr einfache Lösung.“ Die Arbeitgeber:innen sollten sich zu einer Tarifgemeinschaft zusammenschließen, sagt sie. Gewerkschaftler Ivo Garbe klatscht, die Aktivist:innen bleiben ruhig, sie wollen, dass sich der Senat um die bessere Bezahlung ihrer Assistenzkräfte kümmert und das regelt. Gleichzeitig aber halten sie den Weg des Tarifvertrags auch für eine Verbesserung, so Aktivistin Stenger. Aber: im Bündnis gibt es einen Dissens über diese Option, weil die Aktivist:innen um den Tarifvertrag kämpfen müssten. Breitenbach sagt, sie wisse von dem Dissens, sie wisse aber auch, dass es gleichzeitig ein gemeinsames Dilemma gebe – die Rechtsgrundlage des Neunten Sozialgesetzbuchs, die Änderungen in der Bezahlung nur durch Tarifverträge vorsieht.
Es bräuchte einen eigenen Tarifvertrag
Breitenbachs Staatssekretär, Alexander Fischer, betont, der geltende Rechtsrahmen ließe dies nicht zu. Der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) sehe für „einfache“ Assistenz eine niedrigere Bezahlung vor, als es der Haustarifvertrag täte, der jetzt für die Assistenzdienste geschlossen wurde. Erst über einen eigenen Tarifvertrag gäbe es die Möglichkeit, den aktuellen Rechtsrahmen zu ändern. „Wir machen ausdrücklich das Angebot, diesen Prozess zu begleiten“, wiederholt Fischer mehrmals. Zu guter Arbeit gehöre auch gute Bezahlung, deshalb solle man sich auf den Vorschlag der Senatorin einigen, fordert er das Bündnis auf.
Aktivistin Birgit Stenger reagiert erstaunt: „Auch bis zur Änderung 2019 gab es keine rechtliche Grundlage, und trotzdem hat das Land Berlin eine gleiche Bezahlung der Assistenzkräfte zugelassen“, sagt sie. „Bisher waren wir stärker miteinbezogen, als wir es jetzt sind.“
Senatorin Breitenbach beharrt darauf, dass sich die Haltung des Landes Berlins nicht geändert habe, verändert habe sich aber, dass Beschäftigte von Pflegediensten nun Tarifverträge hätten und so besser bezahlt würden. Sie zwinge niemanden, für einen Tarifvertrag zu kämpfen, aber die rechtliche Grundlage für alternative Lösungen für bessere Löhne fehle, das sei ein gemeinsames Problem.
Dass die Senatorin ihr Anliegen zumindest in der Sache begleiten möchte, freut die Aktivist:innen des Bündnis. Einerseits. Aber andererseits geht es ihnen nicht weit genug. Sie hätten sich einen konkreten Vorschlag gewünscht, und sie hätten sich gewünscht, nicht noch weiter kämpfen zu müssen. „Ich verstehe nicht, warum es für Personen in besonderen Lebenssituationen nicht besondere Lösungen geben kann“, fragt sich eine Aktivistin.
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