: Tränen im Neonlicht
FECHTEN Die Deutsche Britta Heidemann siegt nach der längsten Sekunde der Spiele, ihre Gegnerin fühlt sich betrogen
AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER
Eine junge Frau, ganz in Weiß, sitzt am Bühnenrand. In der Hand hält sie einen Degen. Tränen fließen. Schon eine halbe Stunde lang kann sie nicht an sich halten. Sie schüttelt den Kopf. Warum, warum, warum, scheint sie sich zu fragen. Steht sie gleich auf und hält dem Publikum, das längst angefangen hat, mit ihr zu leiden, einen Monolog? Brudermord? Vatermord? Der Liebste tot?
Es ist ein Drama, das die Zuschauer in der dunklen Fechthalle im Osten Londons gebannt verfolgen. Es wirkt inszeniert. Musik, die sich anhört, als sei sie für den Tag, an dem Shin A-Lam, die Königin (lang möge sie noch leben!) stirbt, komponiert worden, ein schwarzer Bühnenhintergrund, die Rampe, auf der die weiße Frau sitzt, leuchtet im Neonlicht. Eine perfekte Inszenierung. Doch ein Spiel ist es nicht. Die Tränen sind echt.
Das Drama, das sich im Halbfinale des Degenwettbewerbs abgespielt hat, berührt die 8.000 Zuschauer. Das Gefecht, das Britta Heidemann, die deutsche Olympiasiegerin von Peking, so knapp gegen die Südkoreanerin Shin A-Lam gewonnen hat, werden sie so schnell nicht vergessen. In der regulären Kampfzeit war keine Entscheidung gefallen. Es gibt eine Minute Verlängerung. Heidemann muss treffen, sonst hat Shin, der der Vorteil zugelost worden war, gewonnen. Sie bemüht sich. Eine Sekunde bleibt ihr. Sie greift an – vergeblich. Die Uhr zeigt immer noch eine Sekunde an. Auch der zweite Angriff ist vergebens. Aber immer noch sagt die Uhr, dass eine Sekunde zu kämpfen ist. Jetzt setzt Heidemann den Treffer. Sie jubelt, nachdem die Kampfrichterin sie zur Siegerin erklärt hat. Der Kampf ist zu Ende, das Theater beginnt.
Shin A-Lan beginnt zu weinen. Der koreanische Coach kann nicht an sich halten. Er kann sich nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, drei Angriffe innerhalb einer Sekunde zu starten. Die Kampfrichter beraten. Shin wartet. Wenn sie jetzt die Halle verlässt, so sagen es die Regeln, hat sie die Niederlage akzeptiert. Fast eine halbe Stunde dauert es, bis Heidemann noch einmal zur Siegerin erklärt wird.
Sie verlässt die Halle und präsentiert sich in ersten Interviews saucool: „Es war ein klarer Treffer.“ Man müsse ran ans Reglement, die Zeitanzeige sei nur sekundengenau, das habe sie schon immer gestört. „Fechten ist einfach ein schneller Sport.“ Währenddessen feiert die deutsche Delegation die erste Medaille. Silber ist Heidemann ja sicher. DOSB-Leistungssportdirektor Bernhard Schwank verkündet: „Das ist ein echtes Signal, dass wir es können.“ Als er das sagt, ist noch lange nicht über den offiziellen Protest entschieden worden, den die Koreaner eingelegt haben. Shin A-Lam sitzt immer noch auf der Bühne und weint.
Irgendwann teilt ihr ein Mann im grünen Sakko mit, dass der Protest abgewiesen worden ist. Sie steht auf. Das Publikum applaudiert. Standing Ovation. Der deutsche Chef der Mission, Michael Vesper, spricht von einer „Tatsachenentscheidung“. Für die Koreaner bleibt es ein Skandal. Bei Heidemanns ersten beiden Attacken ist die Uhr nicht weitergelaufen, stellt sich dann heraus. Die Kampfrichterin soll dann die Fechterinnen gefragt haben, ob sie damit einverstanden seien, die Uhr bei einer Sekunde Restkampfzeit stehen zu lassen. Daran können sich hinterher beide nicht erinnern.
Dann folgt der Epilog. Shin A-Lam verliert den Kampf um Bronze und wird wie eine Siegerin vom Publikum verabschiedet. Britta Heidemann verliert den Finalkampf gegen die Ukrainerin Jana Schemjakina und steht kurz darauf bedröppelt auf dem Podium. „Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn man da oben steht“, sagte sie. „Ich hätte es gern noch einmal erlebt.“ Shin A-Lam sagt immer noch verheult: „Ich hätte gewinnen müssen. Das ist unfair.“ Für die Siegerin interessiert sich kaum jemand.