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Archiv-Artikel

„ ... dabei oft nicht mal atmen“

SYNCHRONSCHWIMMEN Eine Sportart, die gern als albern abgetan wird und als überschminkt. In Wahrheit verdient diese Disziplin Respekt. Denn sie ist ein Motor der Emanzipation

AUS LONDON ANDREAS RÜTTENAUER

Bühne frei! Das Schwimmbad wird zum Varieté. Schrauben, Hebeübungen und Salti. Viel Bein, gestreckt und abgeknickt. Showmusik. Michael Jackson, Tango, AC/DC. Junge Frauen in Trikotagen. Sehr viel Strass, noch mehr Schminke. Showtime im Aquatic Centre. Ganz große Geschichten werden erzählt im Chlordunst des olympischen Schwimmbads. Schwäne, die sich einen neuen Teich erobern müssen, Wölfe, denen auf der Jagd zum Heulen ist. Ein Tiger, der durch den Dschungel streift und Angst und Schrecken verbreitet. Zwei Aufziehpuppen, deren Arme und Beine hin und her fliegen – aber wer zieht sie wieder auf, wenn die Bewegungen langsamer werden? Akrobatik, die erzählen will.

Die Zuschauer sehen die Unterschiede. Das italienische Drama verstehen sie jedoch nicht, geizen mit Applaus. Oder wollen sie sich von der traurigen Synchronschwimmerzählung nicht die olympische Partystimmung vermiesen lassen? Die kanadische Clownnummer finden sie witzig. Sie lachen. Doch auf den Applaus sind die Varietékünstlerinnen nicht aus in diesem Theater. Er ist ihnen ohnehin gewiss. Sie wollen gute Noten von den Kampfrichterinnen. Dieses aufgesetzte Lächeln, diese übertriebenen Gesten, muss das sein? Ist das gutes Theater?

„Eine alte Geschichte“, sagt Natalja Ischtschenko. Nach der Show, die ihr zusammen mit ihrer Partnerin Swetlana Romaschina Gold im Duett beschert hat, ist sie ganz Sportlerin. Sie weiß, dass viele albern finden, was sie macht. Sie erläutert sich. „Wir arbeiten jeden Tag zehn Stunden im Becken und im Kraftraum. Mit dem Kopf nach unten im Wasser zu stehen und das zu üben, ist echt kein Witz.“ Im Trainingsanzug steht sie breitbeinig vor den Männern, die sie nach ihrem Sieg ausfragen. Eine starke Frau.

Das war auch Annette Kellerman. Mit ihr hat einst alles begonnen. Die Synchronschwimmerinnen der Gegenwart sehen sich als ihre Erbinnen. Im London des Jahres 1904 zeigte die damals 18-jährige Kellerman als Meerjungfrau in einem Wassertank auf der Varietébühne des Hippodroms eine verblüffende Show. Ihr Wasserballett begeisterte die Gesellschaft.

In London hatte sich rasch herumgesprochen, wer da als Nixe auftrat: eine der besten Schwimmerinnen jener Zeit. Mit 15 hatte sie in ihrer australischen Heimat alle Männer besiegt, auch über die Meilendistanz. Um in London auf sich aufmerksam zu machen, schwamm sie 47 Kilometer lang die Themse hinab. Ein sportliches Wunderkind. Dass sie dreimal beim Versuch der schwimmenden Bewältigung des Ärmelkanals scheiterte, minderte ihren Ruhm nicht.

„Wir müssen Ausdauersport machen und können dabei oft nicht einmal atmen“, sagt Ischtschenko. In Russland hat sie es mit Duettpartnerin Romaschina schon zu Berühmtheit gebracht. Wenn die beiden eine neue Kür vorstellen, wird diese in allen Sportzeitungen besprochen. In Russland wird dieser Sport nicht veralbert. Ischtschenko hat schon als Kind die Paddeltechniken gelernt, die es einer Synchronschwimmerin ermöglichen, die Ballettfiguren und Formationen zu turnen, auf die die Kampfrichterinnen so genau schauen. Die Techniken, die ein gutes Team zeigen muss, sind katalogisiert. Das macht das olympische Wasserballett erst zur Sportart. Nicht jede, die sich im Wasser elegant bewegen kann, darf sich Synchronschwimmerin nennen.

Ein Jahr braucht es, ehe Romaschina und Ischtschenko eine neue Kür zur Zufriedenheit ihrer Trainerin Tatjana Dantschenko vorführen können. Die Russinnen gelten als unschlagbar. 15 Goldmedaillen haben sie gewonnen seit 1988. Niemand kann die Athletik so schön präsentieren wie die Russinnen. Das schätzen die Kampfrichterinnen, die neben den technischen Fähigkeiten auch den ästhetischen Eindruck bewerten.

Für Annette Kellerman war der künstlerische Eindruck wichtiger als der sportliche. Sie wurde in den USA mit ihrer Wassershow zum Varietéstar. Ihr Outfit wurde ebenso bewundert wie ihre Tauchfähigkeiten. Was sie dem Publikum vorführte, war mehr als erotischer Tanz. Ihre Auftritte waren ein emanzipatorischer Akt. Sie hat in den USA als Erste einen eng anliegenden einteiligen Badeanzug getragen. Weil sie den auch bei Boston am Strand trug, musste sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses Tage ins Gefängnis. Als albern wird das Tun dieser Frau wohl niemand beschreiben können.

Natalja Ischtschenko muss lachen, als das Männerthema aufkommt. Die dürfen bei Olympia nicht mitmachen. Dabei gibt es längst Männer, die sich mit den Frauen im Becken messen wollen. In den USA und Kanada sind Wettbewerbe, in denen Männerformationen oder gemischte Teams antreten, normal. Auch erste reine Männerwettbewerbe gibt es. In Deutschland gilt der Bochumer Niklas Stoepel als Unikum. Er performt mit der FS Bochum, wurde mit dieser schon deutscher Vizemeister. Selbstbewusst sagt er über sein Verhältnis zu den Schwimmerinnen im Team: „Ich trainiere wie sie, bin auf dem gleichen Niveau.“ Er würde gerne einen Männerwettbewerb bei Olympia sehen. Das gäbe der Sportart ein neues Gesicht, „mehr Kraft bei weniger Gelenkigkeit“.

Noch aber gehört die Bühne allein den Frauen. Die sieht indes arg nach Wettschwimmbecken aus. Die Bahnmarkierungen am Boden zerstören viel von der Kunst, die da gezeigt wird. Und die Musikanlage ist einfach schauerlich. Kein Varietétheater würde sich trauen, seinen Künstlerinnen so einen Klangschrott vorzusetzen. Die Aufziehpuppen Ischtschenko und Romaschina haben zur Dramamusik aus dem italienischen Horrorfilm „Suspiria“ ein irres Stück aufgeführt. Die Mehrzweckhallenatmosphäre, in die man sie gepackt hat, ist ihnen nicht gerecht geworden. Wenn Sport zur Kunst wird, braucht er eine angemessenere Bühne.

■ Heute, 16 Uhr, Synchronschwimmen der Frauen – Gruppe