piwik no script img

Archiv-Artikel

Streng, aber schwingend

ARCHITEKTUR Marcel Breuer hatte das Prinzip Ikea schon verstanden, als es das Prinzip Ikea noch gar nicht gab. Das Bauhaus Dessau zeigt eine dem Designer und Architekten gewidmete Ausstellung

So lebendig wie in Breuers Kirche sah man die tote Materie Beton selten

VON MARCUS WOELLER

„Wahrscheinlich ist der entscheidendste Faktor für die Formgebung eines Gebäudes seine sichtbare Struktur, das Zusammenspiel von stützenden und tragenden Elementen – ein Zutagetreten von Spannungszuständen in toter Materie.“ Als Marcel Breuer im Jahr 1966 diesen Satz formulierte, fing gerade die Postmoderne an zu keimen. Nun verlangte man nicht mehr, die Form möge der Funktion folgen, sondern hoffte, ihre Erfüllung in der erzählerischen Vielfalt zu finden. Breuer folgte nicht dem Paradigmenwechsel. Er besann sich auf die konstruktiven Elemente, die er am Bauhaus in Weimar gelernt und dann am Bauhaus in Dessau gelehrt hatte.

Marcel Breuer verstand sich als Architekt. Als solcher hat er erst in den USA eine beeindruckende Karriere gemacht und einige Gebäude hinterlassen, die bis heute als bedeutende Architekturen gelten. In Deutschland ist der 1902 in Ungarn geborene Breuer jedoch vor allem als Möbeldesigner bekannt. Eine Ausstellung im Bauhaus Dessau zeigt jetzt gleichberechtigt beide Aspekte seines Schaffens.

Breuer war als Tischler ausgebildet worden, als ihn Walter Gropius 1925 als „Jungmeister“ für die Möbelwerkstatt des Bauhauses berief. Breuer hätte sich aber lieber als Leiter der Architekturklasse gesehen, denn diese Disziplin empfand er als seine gestalterische Heimat. Das zeigt sich schon an einem Sessel, den er im Alter von 19 Jahren für die Ausstattung des Hauses Sommerfeld in Berlin entwarf, ein robust eckiges Tragwerk aus Holz und Lederpolstern.

Kubistisch wirkt auch sein Lattenstuhl „ti 1a“, den Breuer aus massiven Kirschholzleisten zusammengesteckt hat. Doch die dicke Polsterung ist hier schon einer leichten Stoffbespannung gewichen, die Rückenlehne besteht nur noch aus zwei schmalen Gurten. Furore aber machte Marcel Breuer ein Jahr später mit dem Clubsessel Wassily, den er für seinen Kollegen Kandinsky entwarf. 60 Jahre bevor der Dekonstruktivismus die bestimmende Formensprache im Design wurde, zerlegte Breuer den seiner Definition nach eigentlich massigen und schweren Sessel in ein elegant geschwungenes Skelett aus gebogenem Stahlrohr mit textilen Häuten zum Sitzen und Lehnen.

Die Gebäude, die Breuer nach seiner Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland vornehmlich in den USA gebaut hat, stehen seinen Möbelikonen in keiner Weise nach. Besonders bei der gegenwärtigen Neubewertung des Brutalismus lassen sich in Breuers Werk herausragende Beispiele finden.

In der Kirche St. Francis de Sales in Muskegon, Michigan von 1964 überspannte er den trapezförmigen Grundriss mit einer selbsttragenden Konstruktion vertikal gerippter Wand- und Deckenflächen, sodass er die beiden nicht tragenden Seitenwände hyperbolisch verdrehen konnte. So lebendig sah man die tote Materie Beton selten. Mit der Abtei St. John’s in Collegeville, Minnesota setzte Breuer ein weiteres markantes Architekturzeichen, das seine Herkunft als Produktdesigner dennoch im Detail erkennen lässt. Vor den gewaltigen Kirchenbau mit einer wabenförmigen Lichtfassade stellte er eine verspielte, aber dominante Funktionsscheibe, die als Kombination aus Billboard und Campanile-Persiflage Kruzifix und Glockenspiel aufnimmt.

Breuers Einfamilienhäuser sind sachlicher. Hier griff er viel direkter Funktionslehren des Bauhauses auf. Die Zwei-Zellen-Häuser trennten öffentliche Wohnbereiche klar von privaten. Auskragende Balkone und Vordächer, raumteilende Vorhänge und Glaswände, liegende Rechtecke und Bandstrukturen propagierte Breuer selbstbewusst als Errungenschaften der Moderne. Seine Meisterschaft entwickelte er aber in der Gliederung monumentaler Fassaden und Volumina wie beim Bau eines Hörsaals für die New York University oder dem Whitney Museum. Fenster sitzen in kristallinen Mulden. Pyramidale Erker falten sich aus der Wand. Form und Funktion wollen sich lösen. Architektur wird Skulptur. Breuer schreibt seinem konstruktiven Dogma stets auch eine dynamische Entgrenzung ein. Sei es im Zittern des Freischwingersessels oder im bewegenden Spiel von Licht und Schatten.

Das Prinzip Ikea hatte Breuer schon verstanden, als er seine frühen Entwürfe entwickelte. Vor Montage ließen sich 50 seiner Sessel in nur einem Kubikmeter Verpackung unterbringen, protzte er. Auch mit seiner Funktionsästhetik behielt er Recht: Seine archetypisch modernen Stahlrohrmöbel wirken heute so zeitgemäß wie damals. Konzipiert vom Vitra Design Museum in Weil am Rhein, tourt die Ausstellung „Marcel Breuer. Design und Architektur“ seit fast zehn Jahren um die Welt – für die Firma, die viele der Klassiker in ihrem Hochpreissortiment anbietet, ist das natürlich auch eine große Marketingkampagne. In Dessau ist die Schau nun endlich an ihrem ideellen Ursprung angekommen.

■ „Marcel Breuer. Design und Architektur“. Noch bis zum 31. Oktober, Bauhaus Dessau