Esther Slevogt betrachtet das Treibenauf Berlins Bühnen:
Es wird ja immer behauptet, die DDR sei so spießig gewesen. Häufig kommt diese Zuschreibung aus dem Westen, als wäre die alte BRD ein Hort ewiger Coolness und des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen. Schaut (bzw. hört) man sich aber nur mal das gepflegte popkulturelle Liedgut an, könnte man auch zu dem Schluss kommen, dass das Weltzentrum des Spießertums sich in der Bonner Republik befand.
Nehmen wir nur mal das Duo Cindy und Bert, das (wie Erich Honecker übrigens) aus dem Saarland stammte. Cindy kam dort kurz nach Kriegsende als Jutta Gusenburger und Bert als Norbert Maria Berger zur Welt. Seit dem Ende der 1960er Jahre machten beide als fröhliches Sangesduo Karriere – mit Titeln, von denen mancher heutzutage als rassistisch locker auf dem Index stünde.
„Aber am Abend da spielt der Zigeuner“ zum Beispiel. Der gezwungenen Frohsinn, die kirchenchorhafte Präzision der Gesangs-Arrangements verpassten der westdeutschen Spießerschwere damals eine unerträgliche Leichtigkeit des Seins.
Inzwischen hat die bundesrepublikanische Schlagerkultur ihrer verlogenen Schrillness wegen einen gewissen Kultstatus erlangt. Das haben auch die Geschwister Pfister erkannt, seit langem als Trendsetter in Sachen Verwandlung von abgründigem Kulturerbe in hochkarätige Unterhaltung via Satire, Spaß und Ironie. Nun geben sich Ursli & Toni Pfister als „Cindy & Bert“ die Ehre, im Tipi Theater am Kanzleramt. Unterstützt von 60 Kostümen und 20 Perücken, Fernsehchor, Fernsehballett sowie der Jo Roloff-Band (Tipi: „Cindy & Bert“, 7.–10. 11., jeweils 20 Uhr.)
Das große Emanzipationsprojekt der letzten Jahre bestand ja in diversen bewusstseinsbildenden Maßnahmen, um die Einsicht mainstreamfähig zu machen, dass es ein Menschenrecht ist, Spießer*in zu sein.
Dass zum Beispiel Heiraten nicht bloß was für heterosexuelle Mittelständler*innen ist. Entsprechend haben in den letzten Jahren Lebensformen Aufmerksamkeit auf sich gezogen, über die eine Generation zuvor noch die Nase gerümpft hätte: Kleingärtner*innenexistenzen in Schrebergartenkolonien beispielsweise. Einer solchen ist nun „Parzelle 62“, das neue Projekt von Barbara Lennartz, gewidmet, das die einsame*n Besucher*innen in eine Gartenlaube einer Schrebergartenkolonie in Weißensee einlädt, temporäre Außenspielstätte des koproduzierenden Ballhaus-Ost-Theaters (Ballhaus Ost: „Parzelle 62“, ab 9. 11. bis 8. 12., 17–22 Uhr, jeweils Dienstag bis Sonntag, 15–22 Uhr, alle Informationen: www.ballhausost.de)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen