: Geschichten aus dem Marzipan-Königreich
NEW JOURNALISM Die autobiografischen Erzählungen von Ben Hecht sind so gut wie alter Whiskey
Dass die Geschichten von Ben Hecht nicht an die Bild-Kloake erinnern, obwohl Ähnlichkeiten unbestreitbar sind, liegt an dem großartigen Erzähler, einem der bekanntesten Hollywood-Drehbuchautoren, der in seinen autobiografischen Geschichten „Von Chicago nach Hollywood“ über sein Leben als Journalist so kurzweilig und lustig berichtet, dass man die wundervoll haarsträubenden und absurden Storys genießerisch schlürft wie guten alten irischen Whiskey.
Ein Onkel hatte über seine Beziehungen als reisender Schnapshändler den jungen Hecht im Chicago Daily Journal untergebracht. Dort soll er bei Vergewaltigung, Mord und Totschlag Bildmaterial besorgen, wobei er einen verrückten Einfallsreichtum entwickelt. So klettert er auf das Haus einer Familie, die den Tod ihrer Tochter beklagt und jeden Kontakt mit der Presse verweigert. Dort legt er Bretter auf den Schornstein, bis der Qualm aus den Fenstern dringt, die Bewohner ins Freie treibt und Hecht die Gelegenheit gibt, aus der Wohnung ein Foto der Toten zu entwenden.
Sein größter Coup füllt die Titelseite mit der Schlagzeile: „Erdbeben zerreißt Chicago“. Den auf dem Foto zu sehenden Erdspalt hatte Hecht höchstpersönlich gegraben. Tanten, Onkel und Cousins des Autors sind die Zeugen dieser frei erfundenen Naturkatastrophe. Natürlich fliegt irgendwann eine dieser kruden Lügengeschichten auf und beendet die vielversprechende Reporterlaufbahn. Aber in dieser Zeit erhielt Hecht die beste Ausbildung. Auf seinen Streifzügen durch die Stadt lernte er zwielichtige Gestalten, Diebe und Betrüger kennen, die ein Wirtschaftsknotenpunkt wie Chicago hervorbringen. Wenn Hollywood jemand brauchte, um Gangster glaubwürdig darzustellen, wusste jeder, an wen er sich wenden musste. Hecht schrieb die Drehbücher von Howard Hawks „Scarface“, Hitchcocks „Notorious“ und Billy Wilders „Frontpage“. Er konnte sich drei Hausmädchen leisten, einen Chauffeur und einen Masseur. Hollywood, das „Marzipan-Königreich“ machte es möglich. Hecht war der schnellste und begehrteste Drehbuchautor, selbstbewusst und skrupellos genug, um zu wissen, worauf es ankam.
1918 wird er von seiner Zeitung für zwei Jahre nach Berlin geschickt. Seine Erfahrungen lassen ihn früh die Bedeutung der Nazis erkennen. In allen großen amerikanischen Tageszeitungen schaltet Hecht Anzeigen über den Massenmord an den Juden, im Juli 1943 lässt er erfolgreich ein Theaterstück über die Nazi-Verbrechen aufführen. Er steckt sein gesamtes Hollywood-Honorar in diesen Kampf, der sich auf die Briten ausweitet, da diese jüdischen Flüchtlingsschiffen die Einreise verweigern. Das Empire reagiert verschnupft und erlässt einen Boykott aller Filme, an denen Hecht mitgewirkt hat.
Der geniale Fabulierer Ben Hecht verlässt angewidert vom „Mief und der Feigheit der Stadt“ 1952 Hollywood. Ein letztes Mal geht er durch die vertrauten Straßen. „Ich saß in einem modrigen, einst illustren Salon. Der schnurrbärtige Barkeeper döste zwischen seinen Flaschen. Die Tische waren staubig und verlassen. Die Schwingtür öffnete sich, Musik ertönte, und eine Sirene kam herein und schielte mich lüstern an.“ Madam Hollywood in „rotem Flitterkleid“ und mit „blaulila geschminkten Wangen“ kommt herein. „In ihren Augen lag kein Ärger. Sie waren müde und freundlich, denn einst war ich ein guter Freund wie viele.“ Ein leicht melancholischer, aber auch heiterer Abschied ohne Bitterkeit, und das ist vielleicht genau die Haltung, die nötig ist, um die Geschichten so elegant und mit leichter Hand schreiben zu können, mit Witz und Verve und mit Dialogen, die aus dem Leben kommen und nicht einem Konversationshandbuch entnommen sind.
Ben Hecht könnte zum New Journalism gezählt werden, wenn es den damals schon gegeben hätte, aber er gehört zweifellos zu den großen Journalisten und Autoren Amerikas, mit denen man hierzulande leider nur wenig anzufangen weiß.
KLAUS BITTERMANN
■ Ben Hecht: „Von Chicago nach Hollywood. Erinnerungen an den amerikanischen Traum“. Aus dem Amerikanischen von Helga Herborth. Berenberg, Berlin 2009, 148 S., 19 Euro