: Zehn Rinder für ein Halleluja
FESTIVALKULTUR Das Bremer Musikfest demonstriert mit einem grandiosen Figaro und einer uralten Friesen-Orgel, wie man sich trotz eines bedauerlich geschrumpften Budgets noch profilieren kann
Wäre Klaus Wowereit nicht Bürgermeister von Berlin, sondern, sagen wir, Ortsvorsteher von Rysum bei Emden – sein „Arm aber sexy“-Gerede würde plötzlich Sinn machen. Denn den bescheidenen materiellen Verhältnissen in diesem ostfriesischen Minidorf ist zu verdanken, dass Rysum die älteste noch spielbare Orgel Nordeuropas besitzt. Und wem das noch nicht sexy genug ist: Zusammen mit den Instrumenten von Kiedrich, Sion und Ostönnen gehört die Rysumer Orgel sogar zu den ältesten in ihrem Pfeifenbestand erhaltenen Orgeln der Welt.
Keine auch nur halbwegs wohlhabende Kirchengemeinde hätte sich jahrhundertelang mit einem so alten Instrument zufrieden gegeben, wie das die Rysumer seit 1457 tun. Damals investierten sie zehn Rinder, die sie über den zugefrorenen Dollart zu Meister Harmannus nach Groningen trieben. Auch die so bezahlte Orgel kam, auf Pferdeschlitten, über das Eis zu ihnen. Seither hat sie ihren Platz am sichersten, nämlich höchsten Punkt Rysums: Die Kirche liegt zwar nur sechs Meter über dem Meeresspiegel – aber es war im Mittelalter sicher Arbeit genug, einen so hohen und 400 Meter durchmessenden Hügel, die Dorfwarft, überhaupt aufzuwerfen.
Am Freitag wird es dort nun ungewöhnlich voll: Das Bremer Musikfest, seit Jahren auf der Suche nach spannenden Spielorten im gesamten Nordwesten, macht Rysum im Rahmen seines neuen Orgelschwerpunkts zum Early Music-Hotspot.
Sowohl Super Librum aus den Niederlanden als auch die Baseler Tanzspezialisten von „RenaiDanse“ treten dort auf – ein Crossover aus friesischer und ferrarischer Musik und Tanzkunst, das die Orgel als beileibe nicht nur sakrale Attraktion heraus stellt.
Durch solche Setzungen schärft das Bremer Musikfest sein Profil, was umso dringender ist, als die quantitativen Potenzen des Festivals schrumpfen. Sowohl Bremen als auch die Metropolregion Bremen-Oldenburg haben ihren Zuschuss auf zusammen 620.000 Euro gekürzt, bestreiten also nur noch ein Fünftel des Gesamtetats.
Früher übernahm allein Bremen traditionell ein Drittel des Musikfest-Budgets. Diese Einbuße konnte auch durch das kräftige Anwachsen der Sponsorenschar auf 41 in der Region tätige Firmen nicht aufgefangen werden.
Im Programm macht sich das durch den weitgehenden Verzicht auf große Sinfonik bemerkbar. Nichts ist teurer als umfangreiche Orchester. Mit einem kleinen, dem „Cercle de L’Harmonie“ von Jérémie Rhorer, konnte das dreiwöchige Musikfest nichtsdestoweniger bereits kurz nach seiner Eröffnung am Samstag einen bemerkenswerten Akzent setzen: Es spielte Mozarts Figaro in einer konzertanten Fassung, die nicht nur wegen Patricia Petibon als Susanna betörend war. Wer braucht eine teure Ausstattung, wenn dafür solche Akteure finanzierbar sind?
Mit der Rysumer Orgel, schon zu Mozarts Zeiten eine Antiquität, folgt nun eine weitere Fokussierung, aber ganz anderer Art: Was die heutigen 712 RysumerInnen von ihren Vorfahren geerbt haben, ist natürlich kein mächtiges Instrument, das durch Volumen oder besondere Klangfülle bestäche. Genau betrachtet hat es nur ziemlich wenige Tasten und nicht mal ein Pedal – die Füße des Organisten sind also arbeitslos. Seit 1513 gibt es immerhin sieben Register, ursprünglich beschränkte sich die Bandbreite unterschiedlicher Klangfarben und Tonmodulationen auf zwei Optionen: laut und leise. Mehr nicht.
Dennoch speist sich die Qualität der Rysumer Orgel keineswegs nur aus ihrem ehrwürdigen Alter. Der dichte Klang der verzinkten Bleipfeifen hat eine Präsenz und Unmittelbarkeit, die größeren Orgelarchitekturen oft abgeht. Und dann die Trompete aus gehämmertem Blei! Wenn Jankees Braaksma von Super Librum am Freitag dieses Register zieht, purzeln die Obertöne klirrend ins Kirchenschiff. Die Rysumer Rinder haben sich in ein musikalisches Vermögen verwandelt. HENNING BLEYL
Musikfest Bremen: bis 22. September an unter schiedlichen Orten in Bremen und dem Nordwesten; „Wol up Ghesellen“: Freitag, 7. September, 20 Uhr, Rysumer Kirche; Busshuttle ab Bremen Domsheide, Abfahrt: 17 Uhr