: Lehrstunde vom Nachbarn
DFB-TEAM Trotz des 2:1-Erfolgs bekommen die Deutschen in Wien ihre Schwachstellen aufgezeigt. Insbesondere in der Außenverteidigung mangelt es an Alternativen
AUS WIEN FRANK HELLMANN
Immerhin: Der Hohn und Spott der wartenden Meute ist dem deutschen Fußball erspart geblieben. Es ging längst auf Mitternacht zu, als besonders die deutsche Prominenz unter den 2.500 VIP-Gästen beim Verlassen des Ernst-Happel-Stadions mit Sprechgesängen auf den Heimweg geschickt wurde. Otto Rehhagel hat zu später Stunde noch ein eigenes Ständchen bekommen. Der Bus der deutschen Nationalmannschaft befand sich zu diesem Zeitpunkt längst auf seiner Fahrt zur Luxusunterkunft am Donaukanal. Die dunklen Wolken, die sich bei der gestrigen Abreise vom Wiener Flughafen über die österreichische Hauptstadt legten, gaben ganz gut die Gemütslage bei Joachim Löw wieder, der die Umstände des 2:1-Zittersiegs nicht beschönigen wollte. „In manchen Situationen hatten wir auch Glück. Österreich hätte vielleicht das 2:2 erzielen müssen.“ Etwa bei der Riesenchance des österreichischen Unglücksraben Marko Arnautovic kurz vor ultimo.
Der Bundestrainer wirkte höchst aufgewühlt und angespannt. Wie ausrechenbar ist sein Ensemble geworden, wenn schon ein Widerpart wie Österreich die Schwachstellen so bloßlegt? Der 52-Jährige ahnt längst, dass der „Langstreckenwettbewerb WM-Qualifikation“ (O-Ton Löw) etwas mühseliger werden könnte als der ohne jeden Fehl und Tadel erledigte Durchmarsch zur EM-Endrunde.
Dass sich der während der EM an einem schweren Hörsturz erkrankte Chefscout Urs Siegenthaler nun in einem Interview auf der Verbandshomepage zu Wort meldete, ist deshalb bemerkenswert, weil er nicht nur darauf verwies, auch die nächsten Gegner Irland (12. Oktober) und Schweden (16. Oktober) seien wertzuschätzen, sondern er merkte nebenbei an, das EM-Ausscheiden habe mutmaßlich mit seiner Anwesenheit vermieden werden können. Das lässt tief blicken. Offenbar braucht der Bundestrainer gute Berater – und der Schweizer Taktiktüftler hätte das Regulativ gegeben, um Deutschlands obersten Fußballlehrer von seiner fatal fehlgeschlagenen Idee mit den drei defensiven Mittelfeldspielern abzuhalten.
Auch der Kraftakt im Wiener Prater wird trotz des 24. Siegs im 38. Bruderduell nicht als taktische Meisterleistung in die Annalen eingehen. Es sei ihm lieber, erklärte Rechtsaußen Thomas Müller, „dass wir mit viel Arbeit gegen einen sehr guten Gegner gewinnen, als mit zehn Übersteigern zu verlieren“. Doch ist das der deutsche Anspruch? Umfänglich hatte Löw vorher über eine forsche Spielweise verbunden mit dem Wunsch nach aggressivem Pressing fabuliert, doch in der Praxis führte der Kollege Marcel Koller vor, wie so etwas aussehen kann. „Wir wollten nur phasenweise Pressing praktizieren“, räumte Löw nun kleinlaut ein, „eine Woche reicht nicht, um diese Spielweise zu beherrschen, sondern das wird Monate dauern.“
Löw übte hernach deutliche Kritik an den Nachlässigkeiten nach der 2:0-Führung: „Wir müssen so ein Spiel dann anders kontrollieren.“ Bestätigt wurde der Fachmann in seiner schon häufig geäußerten Ansicht, dass der deutsche Fußball unter einem Mangel an befähigten Außenverteidigern leidet. Marcel Schmelzer lieferte abermals ein Zeugnis seiner taktischen und technischen Unzulänglichkeiten ab und war wie sein Pendant auf der rechten Seite, der schwächelnde Kapitän Philipp Lahm, ein großer Unsicherheitsfaktor. „Diesen Fehler darf man nicht begehen“, rüffelte Löw Schmelzer für sein Verhalten vor dem 1:2. Konsequenzen drohen dem 24-Jährigen nicht, denn: „Wir haben links nicht so viele Alternativen und werden weiter mit Marcel Schmelzer arbeiten und hoffen, dass er sich weiterentwickelt.“