Insel aus Feuer und Eis

Zerklüftete Vulkane, reißende Wasserfälle und riesige Überschwemmungsgebiete faszinieren Besucher Islands. Doch die Schönheit der Natur ist trügerisch. Vulkanausbrüche kommen immer wieder vor. Die wahren Herrscher sind die Meeresvögel

Island hatte die erste parlamentarisch-demokratische Staatsform Europas nach der Antike

VON DIERK HIMSTEDT

Beim Anflug auf den Flughafen Keflavík bekommt man bei freier Sicht eine Ahnung, warum die Insel den Namen Island (ursprünglich „Eisland“) trägt. Denn der Blick richtet sich automatisch auf den riesigen Gletscher Vatnajökull, der im Sonnenlicht am Horizont glänzt. Er ist der drittgrößte Gletscher der Erde und einer Legende nach ist ein norwegischer Wikingerfürst Ende des 9. Jahrhunderts am Vatnajökull an Land gegangen und hat, beeindruckt von dessen Eismassen, der Insel ihren Namen gegeben.

Es ist kurz vor Mitternacht, doch der Wunsch nach Schlaf will nicht so recht aufkommen. Draußen ist es fast noch taghell und vom Meer bläst eine kühle Brise. 10 bis 15 Grad im Sommer sind auf Island keine Seltenheit. Es regnet viel und auch der Wind ist ein ständiger Begleiter. Kein Baum hält ihn auf, wie man schnell feststellt auf der Fahrt nach Vík, ein kleines beschauliches Nest im Süden der Insel, rund zwei Autostunden von Reykjavík entfernt.

Die Wanderung auf den Hausberg von Vík und hinunter zum wunderschönen schwarzsandigen Strand vor der Bucht von Dhyrrolaey gehört zu den außergewöhnlichen Naturerlebnissen auf Island. Hier ist man dem Wahrzeichen von Vík, den drei versteinerten „Trollen“ – drei vom Meer umbrandete Felsen – und unzähligen von Papageientauchern ganz nah. Permanentes Geschrei der in der Steilküste nistenden Vögel begleitet den Wanderer.

Die Meeresvögel sind die wahren Herrscher dieses faszinierenden Naturraums. Fast spielerisch bewegen sie sich im teils stürmischen Wind, bleiben in der Luft stehen oder stürzen gleich darauf scheinbar todesmutig ins Meer, auf der Jagd nach Fischbeute. Die über dem Strand aufragende Steilküste ist ein beeindruckendes geologisches Schauspiel. Mächtige Basaltsäulen bilden treppenartige Skulpturen und bizarre Gewölbe.

Von Vík aus ist es nicht mehr weit zum Vatnajökull, dem großen Gletscher. Vorbei an zerklüfteten erloschenen Vulkanen, reißenden Wasserfällen und riesigen wüstenähnlichen Überschwemmungsgebieten, den so genannten Sandur, geht es zum Skaftafell-Nationalpark. Im Infozentrum des Parks kann man sich über den großen Gletschervulkanausbruch vom Oktober 1996 informieren. Das Ausmaß der damaligen Naturkatastrophe wird in einem Film in mehreren Sprachen, unter anderem auf Deutsch, sehr anschaulich gezeigt.

Wer Lust hat, sollte die kleine, etwa einstündige Wanderung zu dem malerischen Swatifoss unternehmen. Hier stürzt das Wasser über hoch aufgeschossene schwarze Basaltsäulen und hat über die Jahrmillionen einen der schönsten Wasserfälle Islands gebildet. Die eigentliche Attraktion des Nationalparks aber ist der nahe Gletschersee Jörkulárlón, wo sich tonnenschwere Eisblöcke von einem Gletscherarm des Vatnajökull lösen und schließlich langsam ins Meer treiben. Wenn man Glück hat, tollen auch ein paar übermütige Seehunde um die eisigen Inseln herum.

Auf den im Süden Islands vorgelagerten Vestmannaeyjar-Inseln sind es wieder die Meeresvögel, die die Landschaft beherrschen. Es ist das Paradies der Papageientaucher, dem heimlichen Nationalvogel der Isländer. Wie viele Exemplare auf den Vestmannaeyjar-Inseln brüten, kann man nur schätzen. Es sind Millionen. Diese geologisch äußerst jungen Inseln sind geprägt von aufragenden Vulkanen und deren durch Meeresbrandung abgebrochenen Steilküsten, die Meeresvöglen ideale Brutmöglichkeiten bieten. Ein Rundgang auf der größten Insel Heimaey gehört zu den Höhepunkten einer Islandreise.

Doch wie überall auf Island kann die Schönheit der Natur sehr trügerisch sein. In der jüngeren Geschichte der Insel gab es eine Naturkatastrophe, deren brutale Folgen noch heute eindrucksvoll zu sehen sind. Im Frühjahr 1973 brach ein neuer Vulkan auf der Insel aus und sein Lavaausfluss drohte den lebenswichtigen Hafen von Heimaey zu verschütten.

Das Schlimmste konnte verhindert werden – allerdings sind damals fast ein Drittel aller Häuser unter der Lava begraben worden. Heute kann man die Spuren dieser Katastrophe noch gut sehen. Ein Gang auf den Kraterrand des Vulkans macht deutlich, dass der Berg auch nach so vielen Jahren nur langsam abkühlt. In nur ein paar Zentimeter Tiefe wird der Boden so heiß, dass man darin ohne Probleme Brot backen kann.

Mit der Fähre geht es wieder zurück in den Süden Islands. Hier gibt es viel Landwirtschaft. Es geht beschaulich zu. Die Leute sind freundlich, aber gern ein bisschen distanziert. Um die Isländer einmal näher kennen zu lernen, sind Feste und Feiertage wie der Nationalfeiertag am 17. Juni sicher die ideale Gelegenheit. An diesem Tag kommen die Männer und Frauen überall auf der ganzen Insel richtig aus sich heraus. Sie tanzen viel und singen Volkslieder, die dort jeder kennt. Es wird viel getrunken und bis in die dämmrig-helle Nacht gefeiert. Jeder ist eingeladen und die Leute freuen sich, wenn man ihnen zum Unabhängigkeitstag gratuliert. Denn für die Bewohner ist dies ein wichtiger Tag. Seit 1944 sind die Isländer unabhängig. Davor waren sie jahrhundertelang beherrscht von Dänen, Norwegern oder Schweden.

Seit Island im 9. Jahrhundert von den Wikingern besiedelt wurde, hat die Insel eine bewegte Geschichte hinter sich, meist geprägt von Elend, Krankheit, Hunger und Naturkatastrophen. Erst in den letzten Jahrzehnten erleben die Menschen Wohlstand, der sich bis heute immer weiter verbessert hat, sodass die Isländer mittlerweile einen hohen Lebensstandard genießen.

In nur ein paar Zentimeter Tiefe wird der Boden so heiß, dass man darin ohne Probleme Brot backen kann

Der Stolz der isländischen Geschichte befindet sich im Tal Thingvellir, nahe Reykjavík. Hier ist die Seele des isländischen Staates in die Lava gebettet. Thingvellir liegt genau auf der transatlantischen Spalte, von der aus die amerikanische und die eurasische Kontinentalplatten auseinander driften. Hier haben die Urväter Islands von 930 an bis Mitte des 13. Jahrhunderts ihre alljährlichen Gesetzesversammlungen (Althing) abgehalten, auf denen die Regeln des Zusammenlebens für die ganze Insel beschlossen wurden. Es waren gewählte Bauern (Goden), die als Vertreter ihres Bezirks zur großen Versammlung ins Thingvellir kamen und über die neuen Gesetze abgestimmt haben. Dem ernannten Gesetzesverkündern war vorbehalten, den Beschlüssen für ein Jahr lang Gültigkeit zu verleihen.

Island hatte die erste parlamentarisch-demokratische Staatsform Europas nach der Antike und hatte immerhin über 300 Jahre Bestand. Erst durch den Machtanspruch einiger reich gewordener Goden und die Übernahme durch Norwegen verschwand sie 1264. Es sollte für Jahrhunderte, bis zum Unabhängigkeitstag 1944, auch die einzige Periode für die Isländer bleiben, in der sie über ihr Schicksal selbst bestimmen konnten.

Thingvellir ist, wie so viele Orte auf Island, auch geologisch hoch interessant. Denn der angesprochene Graben zwischen den zwei Kontinentalplatten ist hier so deutlich zu sehen, wie selten auf der Erde sonst. Ein Infozentrum, bestückt mit filmischen Dokumentationen, erläutert interessierten Besuchern beide Geschichten – die politische und die geologische.

An dieser Stelle wurde im 11. Jahrhundert auch beschlossen, dass Island offiziell den christlichen Glauben annahm – eine weitsichtige, für den Handel mit dem christlichen Europa äußerst wichtige Entscheidung. Ursprünglich glaubte die Mehrheit der Isländer an den so genannten Asenkult. Ein nordischer Götterkult, der sich bis zum heutigen Tag bei einer kleinen Minderheit der Isländer erhalten hat und vom Staat auch gleichberechtigt anerkannt wird. Selbst Heiraten, durch einen eingetragenen Druiden, ist wirksam und hat somit mögliche juristische Folgen: denn so geschlossene Ehen können nur durch eine offizielle Scheidung rückgängig gemacht werden. Da verblüfft es kaum, dass die Troll- und Elfenwelt im Denken der meisten Isländer nach wie vor vorhanden ist. Teils mit Augenzwinkern, teils aus tiefem Glauben heraus bauen sich viele, wie vor Jahrhunderten, kleine Häuschen in ihre Gärten, um den herumgeisternden Elfen ein Zuhause zu geben.

So lächerlich das für einen Westeuropäer klingen mag. Wer einmal durch die zerklüftete, wilde Landschaft Islands gewandert ist, bei Dämmerlicht der Mitternachtssonne, der erkennt allerorten Riesen, Trolle und sonstige Geister in den Felsen und zischenden heißen Spalten dieses einmaligen Naturwunderparks im Nordatlantik.