: Der Mann, der gern täuscht
Ulf Mann erbte einst Millionen und gründete damit eine Stiftung. Von ihr leben linke Projekte. Jetzt hat er ein Buch geschrieben, eine Kulturgeschichte des Flüchtens. Darin kennt Mann sich aus
VON WALTRAUD SCHWAB
Wer in Augen verschwinden will wie in einem Meer – der muss sich in Ulf Manns Gesicht vom leicht spitzigen Kinn über den vom Schnurrbart verdeckten Mund und die Nase hinaufarbeiten bis zu den blauen Augen. Dort begegnet er dem Blick des Mannes, um festzustellen, dass es kein gleichberechtigtes Treffen ist. „Ich möchte nicht erkannt werden“, sagt Mann. Egal also, was hier steht: „In Wirklichkeit bin ich ganz anders.“ Fotografieren lässt er sich übrigens auch nicht gern, allenfalls verkleidet. „Alles ist Camouflage.“
Mann ist der Zeit voraus. Er ist der Einzige, der es weiß. Vermitteln kann er es nur durch sein Leben. Vor 20 Jahren begann der damalige Millionär sein Wünschen aufs Notwendige zu reduzieren, seither schwört er dem Reichtum ab. Wobei „schwören“ nicht passt. Für ihn ist die Wahrheit nie ausgemacht.
Unruhig sitzt der 64-Jährige in seiner kleinen Küche, die gleichzeitig Vorratskammer und Bibliothek, Archiv und Apotheke, Krämerladen und Labor ist. Pflanzenlabor, Gedankenlabor, Kochlabor. Eine Spinnstube eben, in der es nach Camembert und Pfirsich riecht. Unter dem Tisch am Fenster hat er seine Vorräte gelagert: Käse, Ketchup, Erdnussbutter, Rübenkraut, Kichererbsen. Darüber ein altes Radio, Gläser voll farbigen Pillen, eine Porzellanfigur – Reh mit Kitz, Briefwaage, leere Dosen, volle Dosen, Apothekerschränke mit allem, was ein Mensch braucht. In der Schublade „Folia Chamomillae“ lagern Gummis und Kronkorken, in „Folia Salvia“ sind Nadeln und Garne, in „Folia Menthea“ liegen Plastikreste. Obendrauf eine alte Schreibmaschine samt Tipp-Ex. Darüber ein Lampenschirm aus Plastikfolie, daneben Töpfe, Papier, Geschenke aus Mexiko – Totenköpfe natürlich –, Aktenordner und Aphorismen. „Die Selbstveränderung und die Veränderung der Gesellschaft gehören zusammen“ ist so eine.
Alle Dinge in der Küche haben mit der Zeit die Farbe von Erde angenommen. Es ist eine moderne Höhle, Wandmalereien ersetzt durch den Krempel unserer Zivilisation.
Hinter dem Lehnstuhl links vom Fenster ist ein Teil von Manns Bibliothek. Meyers Lexikon, die Jugendstilausgabe von 1906, sticht heraus. Die Goldbuchstaben überstrahlen die Unübersichtlichkeit, die für Mann keine ist. So sieht Freiheit aus.
Der Sammler aller Dinge rutscht auf dem Hocker in seiner Küche herum und fixiert sein Gegenüber, um doch am Ende derjenige zu sein, der sich entzieht. Er ist ein Zauberer – ausgestattet mit einem Tunnelblick, der die Geschichten, die er über sein Leben zu erzählen hat, im Dunkeln verschwinden lässt. Mann ist ein Berliner Charlie Brown – einer, der ständig der Welt zugewandt ist und dennoch an ihr scheitert.
Die frühesten Erinnerungen des Verweigerers: wie er während des Krieges im Keller spielt, während sein Vater, Apotheker an der Heimatfront, in seiner Weddinger Hinterhofküche versuchte, aus den Chemikalien, die er noch bekommen konnte, Schmerz- oder Desinfektionsmittel zu mischen. Experte in Sinnesbetäubung wurde der Vater, dem sein Sohn eigentlich eine Neigung zu Humanismus und Aufklärung nachsagt und der nach 1945 zu Geld kommt mit Sulfosollan, einer Heilsalbe, die aus Sulfonamid und Lebertran gemixt wird, und dem Schmerzmittel Vivimed. Sein Sohn stromert derweil in den Weddinger Trümmern umher – auf eine eigenartige Weise bezugslos. „Verloren als Kind“, sagt Mann, „das hab ich erst gemerkt, als ich im Internat war.“
Weil sein Vater reich wurde, war es der Sohn auch. Das ist die eine Seite. Die andere: dass er nicht andocken konnte. Weder an das Geld noch an die Positionen, noch an die Aufsteigerklasse des neuen Berlin. Er kann sich nicht erinnern, dass ihn als Jugendlichen überhaupt etwas interessiert habe. „Okay, ich konnte gut zielen beim Schneeballwerfen.“ Ein hoffnungsloser Fall für Superlative ist er.
Im Internat sei das Unangepasste sanktioniert und gleichzeitig bewundert worden und habe ihm eine gewisse Aura verliehen. In diesem Zwiespalt sind seine Wandlungen angelegt. Einmal war er in der FDP, später negiert er das Unternehmertum. Erst hasst er die Mauer, dann hält er die DDR für den besseren Staat. Zuerst ist er in der freiwilligen Polizeireserve, später steht er bei Demos auf der anderen Seite. Nur eines bleibt gleich: dass er Geld nicht hortet.
Wer einen potenten Freund sucht, ist bei Mann gut aufgehoben. Meins ist deins. Er unterstützt das Russell-Tribunal und Umweltfestivals. Er finanziert Heime für Treber, freie Radios und Gesundheitsprojekte für Frauen. Auch Befreiungsbewegungen interessieren ihn und dann all die Freunde, die etwas brauchen, um ein Haus zu kaufen zum Beispiel. Manchmal zieht er mit ein, um irgendwo anzukommen. „Es gab wenig Leute, bei denen ich das Gefühl hatte, die sind mit mir zusammen nicht wegen des Geldes.“
Eigentlich sollte er Juniorchef der Dr. Mann Pharma werden. Aber er hatte so Ideen, die passten nicht ins Schema: „Wenn ich Chef werde, kommt ’ne Klimaanlage in die Firma. Und ein Fußballplatz und ’ne firmeneigene Tankstelle.“ Es ist nicht so weit gekommen: Nach dem Tod des Vaters trauten ihm die Gesellschafter den Sprung ins Unternehmertum nicht zu. „Nicht dass ich mich für einen besseren Menschen halte. Ich habe von den Tantiemen gelebt.“
Als die Firma 1985 verkauft wird, ist er noch reicher. „Plötzlich diese Riesenlast.“ Verantwortung für viele Millionen. „Das zieht einen so rein in den Strudel. Man darf kein Geld verschenken, da fällt Schenkungssteuer an.“ Er stöhnt noch bei dem Gedanken daran. Das mit dem Geld, das wird ihm zu viel. Er sucht nach Wegen, es loszuwerden. Sinnvoll loszuwerden. Auch für sich. „Ich war 20 Jahre lang Millionär. Das hält man als normaler Mensch nicht aus.“
Mitte der 80er-Jahre hat Ulf Mann sein 18 Millionen Euro umfassendes Vermögen in eine Stiftung gegeben, die „Stiftung Umverteilen“. Die Projektelandschaft in Berlin, aber auch weltweit, profitiert seither umfassend von den Geldern. Mit den steuerfreien jährlichen Zins- und Pachteinnahmen der Stiftung in Höhe von 650.000 Euro werden im Jahr fast 250 Projekte gefördert. Mann selbst hat keine Position innerhalb der Stiftung inne. Mit dem Geld wird er die Verantwortung fürs Geld los. Das ist die eine Seite. Die andere: Dadurch, dass er das Geld hergibt, übernimmt er Verantwortung für den Reichtum, den – so sieht er das – andere für ihn erwirtschaftet haben. Damit aber demonstriert er seine radikale Abkehr von der sonst weit verbreiteten Haltung im Kapitalismus, die zulässt, dass Gewinne individualisiert und Verluste sozialisiert werden.
Heute lebt Mann von der Rente aus seiner Zeit als Pharmazeut. Er war einer aus dem Apothekerkollektiv am Viktoriapark. Daneben verdient er ein paar Euro mit Putzjobs. Er findet, er habe noch immer zu viel, und spendet hin und wieder ein paar Euro, denn er gibt gerne. „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun“, zitiert er Moses Mendelssohn.
Involviert und gleichzeitig beziehungslos – dies sind Markierungen in Manns Leben. Dass sie es sind, gefällt ihm. Dazu passt eine seiner Liebesgeschichten. Einmal, erzählt er, hatte er zu DDR-Zeiten sechs Jahre lang eine Freundin in Leipzig. „So was mit Ost-West-große-Liebe.“ Die Mauer zwischen den Staaten macht die Beziehung sicher, wenn es ihm zu eng wird. Wenn sich die beiden aber sehen, dann brennt das Feuer um so heller. Als sie zu ihm ziehen will in den Westen, lehnt er ab. „Ich kann dich nicht aus deinen sozialen Zusammenhängen herausreißen.“ Das Umgekehrte gilt auch: Er kann seine Losgelöstheit nicht aufgeben, indem er ihr Eingebundensein löst.
Selbst seine Art, sich zu kleiden, zeigt diesen Zwiespalt. Er will dazugehören und will es auch nicht. Denn seit 20 Jahren ist ihm die blaue Latzhose der Mechaniker wie auf den Leib geschneidert. „Innerlich suche ich noch, aber äußerlich bin ich festgelegt“, kommentiert er sein Outfit. „Viele denken, der hat’s nötig, so gammlig rumzulaufen. Aber ich fühle mich wohler in alten, getragenen Sachen.“ Die Arbeitshosen kombiniert er mit einem ausrangierten Bundeswehrhemd. Das Gelb des schwarz-rot-goldenen Aufnähers am Ärmel hat er rausgeschnitten. Bleiben Rot und Schwarz – die Farben des Sozialismus und der Anarchie. Manchmal allerdings lässt er sich von alten Bekannten doch in die Oper und zum Dinner einladen. Dann zieht er ein T-Shirt über den Blaumann.
Mann verortet sich an der Basis. Er meint es im wörtlichen Sinne: am Grund. Es erdet ihn. Gerade hat er sechs Monate Solidaritätsarbeit in Kuba hinter sich. Die Hitze hat ihm zu schaffen gemacht, als er dort in einer Fabrik arbeitete. Zurückgebracht allerdings hat er vor allem jenen Moment der Freude, als er seine Gitarre an einen kubanischen Musiker verschenken konnte. Dessen Begeisterung über das Geschenk nähre ihn, „aber auch der Gedanke, dass die Gitarre in würdige Hände kommt“. Er sammle eben gern und er sei gern freigebig.
Solidaritätsarbeit in Kuba ist nur eine seiner Aktivitäten, denn er ist, wie er meint, „immer noch in der Entwicklung begriffen“. Auf der Suche nach neuen Ideen probiert er alles aus: Er geht mitunter zum Gottesdienst. Beim Antiatomplenum und auch bei den Protesten gegen Genpflanzungen in Brandenburg macht er mit. Außerdem schwimmt er an heißen Tagen quer durch die Spree. Das ist verboten. Es wird ihn nicht aufhalten. Ein bisschen möchte er mitentscheiden, was richtig und falsch ist. So kam er auch zu seiner Knasterfahrung. Er gab ehemaligen Heroinabhängigen, die auf Methadon waren, das Medikament ohne Rezept. Verurteilt wurde er deswegen nicht, aber wegen Beleidigung der Staatsanwältin. „Ignorante Sesselpuperin“ habe er sie genannt. Weil er die 700 Mark Strafe nicht bezahlen wollte, ging er ins Gefängnis. „Keine Termine, keine Verabredungen, keine Verpflichtungen, gutes Essen. Ich konnte jeden Tag duschen, ohne die Dusche sauber zu machen.“ Am Schluss hat er sich doch noch freigekauft, um pünktlich zu einer Geburtstagsfeier zu kommen. „Ich leiste mir den Luxus, mich nicht einbinden zu lassen.“
Jetzt hat er ein Buch geschrieben. „Tunnelfluchten“ heißt es. Es berichtet von „Grenzgängern, Wühlmäusen und Verrätern“. Das Buch ist eine Collage, eine Sammlung von Augenblicken und Wortfetzen, von Berlingeschichte und Grenzen, von Interviews mit Schleusern und philosophischen Gedanken über die Freiheit, die immer anderswo ist. Es ist eine Kulturgeschichte des Flüchtens – nicht jener, die ins Unbekannte geht, sondern einer, die die Flucht nach Berlin beschreibt. Mitten hinein ins Herz. Unlesbar ist das Buch, wenngleich eine Fundgrube mit visionärer Sicht auf die Zeit. Als Autor schert sich Mann einen Dreck um sprachliche Ordnung und Kohärenz. Es ist ein Buch, hinter dessen Gegenstand er sich ganz versteckt. Um ihn, den Getarnten, zu erkennen, lohnt es sich, beliebig eine Seite aufzuschlagen und zu lesen. Da steht: „Im Fall des erschossenen Fluchthelfers Heinz J. übernehmen die ‚Politischen‘ und/oder ‚Geheimen‘ dann komplett die Ermittlungen.“ Oder: „Die Leute wurden mit Faust und Knüppel zur Vernunft gebracht.“ Auch: „Es gibt keine Wahrheit, nur Wahrheiten.“ Dies alles hat mit ihm zu tun. Ein Tunnel: Interimseingang in die Unterwelt. Mit Glück wird der Reisende transformiert am anderen Ende wieder erscheinen.
„Was das Schreiben angeht“, meint Mann, „kenne ich die Regeln nicht. Sonst würde ich mich vielleicht daran halten.“