Sonja Vogel German Angst: Bayern macht Krankheit zum Verbrechen
Mehr als vier Millionen Menschen sind in Deutschland an Depressionen erkrankt. Das Risiko, im Laufe des Lebens eine Depression zu bekommen, beträgt bis zu 20 Prozent. Das schätzte die WHO 2017. Die Depression ist ein Massenphänomen und engstens verknüpft mit den gesellschaftlichen Strukturen und Anforderungen.
Dies ist der Hintergrund des Entwurfs zum Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz in Bayern. Mögliche Neuerungen: Speicherung der Daten inklusive Diagnose derer, die in Kontakt mit der Psychiatrie gekommen sind bei der Polizei, KlinikpatientInnen soll der Zugang zu Zeitschriften, Musik, ja sogar Besuche verwehrt werden dürfen. Das soll die „öffentliche Sicherheit“ gewährleisten?!
Es wird weiter über den Entwurf beraten werden. Die Richtung aber ist deutlich. Statt Enttabuisierung psychischer Krankheiten und niedrigschwelligen Hilfsangeboten geht es zurück zu Stigmatisierung und Maßregelung. Interessant zudem, dass Depressive nun als Gefahr gelten sollen, galt doch vor nicht allzu langer Zeit die Melancholie als Charakterzug des männlichen Genies. Seither hat sich viel verändert – vor allem das Wirtschaftssystem und die Position des Individuums.
Es reicht nicht mehr, bloß einen 9/5-Job zu machen. Die Marktwirtschaft fordert längst die ganze Person. Persönliche Initiative ist der gesellschaftliche Imperativ. Im Kapitalismus kann jedes subjektive Produktionspotenzial auf den Markt geworfen werden – die Gefühle selbst sind eine der wichtigsten Ressourcen. Schon in den 1930ern zeigte der Soziologe Elton Mayo in seinen Studien in Betrieben, dass das Eingehen auf die Emotionen der ArbeiterInnen im therapeutischen Gespräch und das emotionale Selbstmanagement die Produktivität erhöht. Die Verantwortung der Selbstverwirklichung, jene, ein auf dem Markt beständiges Subjekt zu werden, hat jedeR allein zu tragen. Schon sind die strukturellen Konflikte in das Individuum verlagert.
Zurück zur Depression. Die Kehrseite des Imperativs persönlicher Initiative: Nicht falsch zu handeln, sondern nicht handeln zu können. So wird die Handlungsunfähigkeit zum Widerstand. Durch keine andere Krankheit entzieht sich der Mensch der neoliberalen Selbstoptimierung durch Erschöpfung. Verweigerung.
Die Fünftagesvorschau
Mi., 25. 4.
Michael Brake
Nullen und Einsen
Do., 26. 4.
Max König
Fast Italien
Fr., 27. 4.
Hengameh Yaghoobifarah
Habibitus
Mo., 30. 4.
Fatma Aydemir
Minority Report
Di., 1. 5.
Juri Sternburg
Lügenleser
kolumne@taz.de
Vor diesem Hintergrund wird das Nichtfunktionieren zum Verbrechen. Die Reaktion kennt man aus dem Maßregelvollzug: markieren, isolieren, bestrafen. Hinzu kommt, dass die Depression sich der eindeutigen Sinnhaftigkeit entzieht; ähnlich der Hysterie, die es vor 150 Jahren durch repressive „Therapien“ zu kurieren galt – natürlich erfolglos, denn in den Symptomen der Frauen manifestierte sich die Brutalität des Patriarchats.
In gewisser Weise hat die CDU/CSU also der Zeitgeist heimgesucht. Nicht zuletzt sie hat an der Prekarisierung und Vereinzelung der LohnarbeiterInnen gearbeitet. Nun reagiert sie mit repressiver Stigmatisierung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen