berliner szenen: Die edel gekleideten Herren
Am Anhalter Bahnhof leben Obdachlose. Einer von ihnen verbringt die Nachmittage auf dem Bahnsteig. Seine Anwesenheit bemerkt man schon oben am Fahrstuhl – am Geruch. Der ist unbeschreiblich. Wenn der Fahrstuhl aufgeht und man dort eigentlich nicht einsteigen möchte, weiß man: Er ist wieder da. Ein dünner Mann, der in einem dreckigen Schlafsack und im Rollstuhl direkt vor der Fahrstuhltür steht. Ich versuche dann immer möglichst schnell an ihm vorbeizukommen. Und traue mich auch nie, ihm etwas zu essen oder Geld zu geben. Der Geruch hält mich auf Distanz.
Ich hatte ihn länger nicht gesehen, aber jetzt ist er wieder da. Und mit ihm der strenge Geruch. Zum Glück ist auch die S-Bahn schon da. Ich schiebe mein Fahrrad in das Radabteil und kollidiere dabei fast mit zwei edel gekleideten Herren, die mit ihren großen, teuren Rollkoffern ebenfalls zu den für Räder und Gepäckstücke vorgesehenen Plätzen wollen.
„Lackaffen!“, denke ich vorurteilsbeladen, müde und genervt. „Könnten sich vermutlich auch ein Taxi leisten.“ Für uns drei wäre nicht mehr genügend Platz gewesen. Sie lassen mir aber freundlicherweise den Vortritt, sonst hätte ich neben dem Rad stehen bleiben müssen. Ich sitze schon, da höre ich Fetzen ihrer Unterhaltung. „Dem Geruch kann man ja gar nicht ausweichen auf dem Bahnsteig.“ – „Aha“, denke ich böse, „der Mann stört sie. Im Taxi wäre ihnen das nicht passiert.“
„Der ist hier ja schon ganz lange täglich“, sagt der besonders teuer Angezogene. „Aber in den letzten Wochen war er plötzlich weg. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass er draußen gestorben ist. Aber heute sah er auch nicht so krank aus wie sonst.“
Ich schäme mich für meine Vorurteile und lächle den Männern zu. Sie lächeln freundlich zurück.
Gaby Coldewey
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