berliner szenen: Die Tüten am Bachufer
Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf, heißt es in einem afrikanischen Sprichwort, das in deutschen Erziehungsratgebern gern zitiert wird. Selbstverständlich ist etwas Wahres dran, aber das Dorf kann genauso gut ein Straßenzug oder ein Hochhaus sein. Mein Heimatdorf am östlichen Stadtrand ist längst zu groß geworden, als dass alle alle kennen würden. Dennoch darf man als Erwachsener, wenn es geht, gern angemessen erzieherisch eingreifen, um Einfluss auf den Nachwuchs zu nehmen – in diesem Fall in Sachen Umweltschutz.
Unweit des Dorfes, hinter einem großen Feld, befindet sich in einem schmalen Naturschutzgebiet ein Fließ. Der Bach mäandert durch Wiesen und Erlenhaine; er ist ein Kleinod und wäre – würden nicht die Autobahn, Flugzeuge und ein Stickoxid speiendes Glaswerk lärmen – ein Refugium der Ruhe im Grünen. An einer Brücke unter Weiden plätschert das Wasser, und wenn der Wind gut steht, ist oft nur das Gurgeln zu hören. Herrlich.
Genau an diese Stelle zieht es mich an einem Sonntagabend. Drei Fast-Jugendliche sind schon dort und hören laute Musik, im Umkreis liegen Getränke- und Süßigkeitentütchen. „Na, euren Müll nehmt ihr aber wieder mit“, rufe ich zur Begrüßung. „Ist nicht unser.“ „Glaube ich nicht und ist mir auch egal, Erwachsene machen das nicht. Kannst gleich mal loslegen und eine gute Tat vollbringen“, spreche ich einen Blonden direkt an. Er bückt sich und murmelt: „Kriege ich dann einen Orden?“ „Klar“, erwidere ich, „in welche Schule gehst du denn?“ „In die Grundschule hier, sechste Klasse.“ „Prima, da kenne ich eine Lehrerin“, lüge ich, „der gebe ich Bescheid. Wie heißt du denn?“ Er nennt seinen Namen und räumt die Tüten zusammen. „Tschüs“, rufe ich und fahre mit meinem Rad in Richtung Schule, um der Legende Nachdruck zu verleihen.
Ein paar Tage später radele ich wieder zur Brücke am Bach. Die Tüten sind entfernt, von wem auch immer. Richard Rother
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