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Archiv-Artikel

Surfen auf dem Megatrend

Am Ende von Rot-Grün (IV): Ministerin Renate Schmidt redet nicht über Genderpolitik, Familienpolitik ist doch viel schöner. Für die Frauen ist trotzdem ein Durchbruch gelungen

Kinderbetreuung ist vom leidigen Frauen- zum existenziellen Zukunftsthema geworden

Wer in Deutschland mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern schaffen will, der lässt es sich am besten nicht anmerken. So kann man sieben Jahre rot-grüne Frauenpolitik zusammenfassen.

Eine moderne Gleichstellungspolitik durch „Gender Mainstreaming“, wie sie Frauenministerin Christine Bergmann von 1998 bis 2002 versuchte, lief weitgehend ins Leere. Der Taktikwechsel ihrer Nachfolgerin Renate Schmidt zu einer modernisierten Familienpolitik, die nicht mehr die Hausfrau, sondern die erwerbstätige Mutter im Visier hat, erwies sich dagegen als erfolgreicher. Das liegt an zwei spezifisch deutschen Bedingungen: Die erste ist ein Kanzler, der Gleichstellungspolitik definitiv nicht unterstützt. Die zweite ist eine Öffentlichkeit, die dem Thema Geschlechtergerechtigkeit ambivalent gegenübersteht.

Bergmann hatte 1998 eine breite gleichstellungspolitische Agenda: Prostitutions- und Gewaltschutzgesetz oder das berüchtigte Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft standen neben familienpolitischen Maßnahmen wie Kindergelderhöhungen, Elternzeit- und Teilzeitgesetz. „Modernisierte Gleichstellungspolitik“ kann man Bergmanns Maßnahmen nennen, weil sie in das Konzept des „Gender Mainstreaming“ eingebunden waren: Unfreiwillige Diskriminierungen eines Geschlechts sollen vermieden werden, indem die Auswirkungen jedes Projekts auf Männer und Frauen im Vorhinein untersucht werden. Die Theorie dazu: Wenn die eine Hälfte der Bevölkerung schlechter wegkommt als die andere, hat man ein Demokratieproblem. Das war bei all ihren Vorhaben das zentrale Argument von Christine Bergmann.

Mit dieser Strategie traf die Ministerin nun auf die widrigen Bedingungen Kanzler und Gesellschaft. Gender Mainstreaming funktioniert nur, wenn der Chef dahinter steht und Strukturänderungen mit seiner Macht durchsetzt. Dass Schröder dies nicht tat, ist offensichtlich.

Die zweite widrige Bedingung ist die bundesdeutsche Gesellschaft. Das sind nicht nur Institutionen oder Unternehmen, in denen ein männerbündischer Stil herrscht, über den in vielen Nachbarländern nur noch gestaunt wird. Das sind auch die ganz normalen Deutschen, die zwar seit Jahrzehnten finden, dass für Frauen und Familien dringend etwas getan werden müsste, wie Umfragen zeigen. Da die Politik darauf aber kaum reagierte, ist eine tiefe Resignation entstanden.

Der nachwachsenden Frauengeneration bietet sich deshalb ein verwirrendes Bild. Sie lebt einerseits in einer Gesellschaft, in der Trendforscher den „Megatrend Frau“ ausgemacht haben und direkte Diskriminierungen eher als humoristische Einlagen gelten. Als Opferkollektiv, solidarisch für Prostituierte und Gewaltbetroffene kämpfend, mag man sich nicht mehr verstehen. Andererseits stoßen junge Frauen, kaum haben sie das gebärgefährliche Alter erreicht, gegen eine Wand indirekter Benachteiligungen, die andere Länder schon lange aktiv abbauen. Dieses Problem aber wollen sie konkret lösen, einen demokratietheoretischen Gender-Überbau brauchen sie dafür nicht.

Renate Schmidt fand günstigere Bedingungen vor – und wusste sie zu nutzen. 2002 nämlich hatte die Debatte um die Krise der Sozialsysteme eine demografische Wende genommen. Plötzlich erschien sonnenklar: Wer mehr Kinder will, muss sich um mehr Betreuung kümmern. Der Pisa-Schock fügte noch ein Bildungsargument hinzu: Kitas und Ganztagsschulen bringen mehr schlaue Kinder.

Schmidt hat auch Schlüsse daraus gezogen, wie Kanzler und Gesellschaft mit Bergmanns Politik umgingen. Sie segelt ausschließlich mit der Strömung – und macht dabei noch möglichst viel Wind. Sie parkt die ungeliebten Gender- und Frauenfragen bei einem „Gender-Kompetenzzentrum“. Das Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft versenkt sie ganz nebenbei. Stattdessen widmet sie sich der Kinderbetreuung. Das ist nicht kompliziertes Geschlechterzeugs, sondern schöne Familienpolitik, und die lieben alle.

Kinderbetreuung ist vom leidigen Frauenthema zum existenziellen Zukunftsthema geworden, das hat auch Schröder begriffen. Es gibt plötzlich Rückendeckung aus dem Kanzleramt. Schmidt nutzt sie: Ganztagsschulprogramm, Ausbau der Kitas, „Bündnisse für Familie“. Dazu bombardiert sie die Öffentlichkeit mit Studien, die ausschließlich ökonomisch argumentieren, denn das kommt an: Ein Unternehmen, das die Eltern in seiner Belegschaft unterstützt, spart unter dem Strich Ausfallkosten. Eine Volkswirtschaft, die hochqualifizierte Frauen nicht als Humankapital nutzt, ist ineffektiv. Wer Kinder nicht optimal fördert, verliert in der globalen Konkurrenz.

Gerade auf der lokalen Ebene fällt ihre Bündnis-Idee auf fruchtbaren Boden. Dort sitzen nämlich die gut ausgebildeten Mütter, die gerade gegen die Stahlbeton-Wand laufen. Sie wollen nicht Gender Mainstreaming, sie wollen jetzt in ihrem Beruf bleiben und ihre Kinder gut betreut wissen. Eltern steigen Bürgermeistern aufs Dach für längere Öffnungszeiten der Kitas, Kommunen schnitzen aus Arbeitsmarktprogrammen ErzieherInnenstellen, Unternehmen sponsern Kitaplätze. Über 200 der 500 deutschen Landkreise haben inzwischen ein solches Bündnis geschlossen. Das ist eine beeindruckende Zahl.

Die rein ökonomische Argumentation hat aber auch ihren Preis. Mit den Bündnissen für Familie wird die Betreuungsfrage teilprivatisiert: Eltern und Unternehmen kümmern sich, erst in zweiter Linie der Staat. Und weil es eben keinen Rechtsanspruch auf Betreuung gibt wie in anderen Ländern, bleiben die „Bündnisse“ labil: Wird ein Arbeitsmarktprogramm gestrichen, fällt alles wieder in sich zusammen. Hat ein Unternehmen genug Männer zur Auswahl, kümmert es sich nicht um das Humankapital Frau, ein Gleichstellungsgesetz gibt es ja nicht.

Frauenministerin Bergmann traf aufdie widrigen Bedingungen Kanzlerund Gesellschaft

Mit Schmidts marktkonformer Argumentation verschwinden außerdem Gerechtigkeitsfragen, wie sie das Gender Mainstreaming stellt, hinter den quasi-darwinistischen Überlebensfragen der Ökonomie. Ein plastisches Beispiel dafür ist Hartz IV. Dieses Gesetz steckt voller indirekter Diskriminierungen für Frauen. Hätte die Regierung Gender Mainstreaming angewandt, dann hätte es das Projekt Hartz IV so nicht geben können; die Diskriminierungen wären vorher aufgeflogen.

Schmidt hat einen Erkenntnisdurchbruch mitgestaltet: Der Staat muss sich um seine Kinder kümmern. Das ist für deutsche Verhältnisse revolutionär. Und die Gender-Projekte existieren immerhin, auch wenn sie niemand kennt. Die Union dagegen weiß gar nicht, wie man Gender Mainstreaming buchstabiert. Nicht mal mehr Kinderbetreuung will sie ihren Wählern zumuten. Ob sie die breite Strömung der Zustimmung, auf der Schmidt mit ihrer Betreuungskampagne schwamm, wirklich wieder umlenken könnte, ist fraglich. Doch im Versickernlassen ist die Union auch immer schon gut gewesen.

HEIDE OESTREICH