: Das Ostpaket
SOZIALDEMOKRATIE Die SPD hat sich eine neue Hoffnung besorgt. Sie heißt Manuela Schwesig und macht sich von Schwerin aus auf in die Hauptstadt
Wir haben auf jeden Fall Spuren in der westdeutschen Werbung hinterlassen – so weit geht mein Selbstbewusstsein schon. Ich war 23, als ich mit meinem Agenturpartner eine Kampagne für das Ostgetränk Club Cola entworfen habe. Slogan: „Hurra, ich lebe noch“. Das kam damals aus dem Bauch heraus, später wurde uns in die Schuhe geschoben, die Ostalgiewelle ausgelöst zu haben.
Ich habe mich daraufhin mit dem Einfluss deutsch-deutscher Beziehungen auf Werbung befasst. Das Ergebnis: Werbung, die im Osten funktioniert, funktioniert auch im Westen – aber nicht umgekehrt. Klassisch westdeutsche Werbung setzt auf sogenannte moderne Werte: Freiheit, Unabhängigkeit. Ein Herd wird beworben, indem er leer in einer modernen Wohnung steht, davor eine gut aussehende Frau, die allein einen Cocktail trinkt. Wir haben das Plakat zu Testzwecken so umgestaltet, dass es Werte mit einbezieht, die im Osten präsent sind: Gemeinschaft, Vertrauen. Statt einer Singlefrau ein junges Paar, im Ofen schmort eine Ente. Das sprach auch die Westprobanden mehr an. Diese Erkenntnisse haben unsere Arbeit auch für Westmarken beeinflusst – und die Arbeit vieler Kollegen. In den letzten Jahren werden Kampagnen, auch von Westunternehmen, zunehmend in Ostdeutschland getestet. Das ist für mich ein Indiz, dass sich etwas verändert hat.
Alexander Mackat ist Werbeprofi. Geboren 1969 in Odessa, lebt er in Berlin
VON NADJA KLINGER
Zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall gibt es endlich dieses Bild. Es wurde im Sommer aufgenommen und war in fast allen Zeitungen. Ein weißhaariger, gestandener Mann hält sein Glück in der Hand. Er steht ohne Jackett da, nur in Hemd und Krawatte, und drückt es an seinen wohl genährten Bauch. Er lacht breit und geschichtsträchtig. Denn der Mann ist aus dem Westen, und was er da festhält, ist ein Ostpaket.
Es ist Manuela Schwesig, 35 Jahre alt, klug, engagiert und unerschrocken, Sozialdemokratin, Sozialministerin, Absender: Mecklenburg-Vorpommern. Von dort hat Frank-Walter Steinmeier sie nach Berlin geholt. Sie war der Osten im Kompetenzteam des Kanzlerkandidaten. Eine attraktive Äußerlichkeit. Doch da die Menschen in den neuen Bundesländern auf Äußerlichkeiten nicht mehr reinfallen, hat trotzdem kaum einer von ihnen SPD gewählt. Der Kanzlerkandidat ist jetzt Oppositionsführer.
Jedoch die Partei in ihrer Verzweiflung hält an Steinmeiers Paket fest. Manuela Schwesig soll eine von fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden werden. Sie soll die SPD im Osten wieder attraktiv machen. Seit Wochen reist sie mit dem Zug zwischen zuhause und der Hauptstadt hin und her. Hier preist man sie in höchsten Tönen.
Von den Ostdeutschen ist überliefert, dass sie Pakete, die einst über die Mauer kamen, auf dem Wohnzimmertisch abstellten, bis alle Familienmitglieder eingetrudelt waren. Das Packpapier, die fremde Briefmarke waren eine Freude an sich. Dann haben sie den Inhalt benutzt, aufgebraucht oder verfuttert. Aber das hat ihr Dasein nicht wirklich glücklicher gemacht.
Manuela Schwesig wuchs in einer Kreisstadt im Oderbruch, in Brandenburg, auf. Mit fünfzehn erlebte sie auf dem Sofa den Mauerfall: als Jubel und Trubel im Fernsehen. Dann sah sie, wie ringsum Freunde und Verwandte die Arbeit verloren. Auch der Vater. In Gesprächen zuhause steckten viele Fragen, kaum Antworten. Das Vertrauen, dass Erwachsene das Leben im Griff haben, ging ihr früh verloren. Sie erfuhr, wie es ist, sich zu sorgen.
Im Osten mussten Ämter aufgebaut werden, man empfahl ihr die Finanzlaufbahn. Sie büffelte Steuerrecht, begriff, wie das Finanzamt Frankfurt (Oder) funktionierte. Sie zog mit ihrem Mann nach Schwerin. Der Stadt ging’s nicht gut. Die Wirtschaft war zusammengebrochen, es fehlten Arbeit und Ausbildung. Junge Menschen zogen weg, es sank die Kaufkraft, Steuern gingen verloren, Image, Bedeutung, Handlungsfähigkeit.
Manuela Schwesig nahm es auch in Schwerin mit dem Finanzamt auf, kämpfte sich hoch bis ins mecklenburgische Finanzministerium. Sie vergaß nicht, was sie in der Wende gelernt hatte: dass der Mensch Glück haben und es festhalten muss. Dass er unverschuldet in soziale Bedrängnis geraten kann. Dass Not Familien zerstört, vor Kindern nicht haltmacht. Sie erarbeitete sich eine beeindruckende Berufsbiografie. Dass sie zu Jahresbeginn 2002 auch noch im Ortsverein der SPD in der Schweriner Paulsstadt auftauchte, sah nach einer perfekt vollendeten Kür aus. Für sie war es die Pflicht eines Menschen in Gesellschaft, sich um die Lebensläufe anderer zu kümmern.
Schuting Schtar
Der Ortsvereinsvorsitzende Michael Schneider hatte die blonde Frau sofort im Blick. Wie aufmerksam sie zuhörte. Wie sie auf die Leute einging, argumentierte. Wie einnehmend sie lächelte. Er sah einen „Schuting Schtar“. Ich will nicht drängeln, sagte er auf der Weihnachtsfeier 2002, aber hier ist der Aufnahmeantrag. Sein Star unterschrieb.
Schneider wurde 1944 geboren. Er war ein Flüchtlingskind, kam von Breslau nach Grünhainichen bei Chemnitz, 1971 nach Schwerin. Wenn er spricht, rangelt das Mecklenburgische mit dem Erzgebirgischen. Gewesenes bleibt. Früher war er Ingenieur im Verpackungsmittelwerk. Sein Haar ist weiß, der gestutzte Bart auch. Das Gesicht, in dem seine Brille sitzt, besteht aus frischer Luft und Sonne.
Er trägt sein Bundesland bei sich. Es klemmt am Revers des Kordsakkos, ein Viereck in vier Farben. Grün ist der fruchtbare Lehmboden. Hellblau der unendlich weite Himmel. Dunkelblau ist die Ostsee, über der sich Niederschläge sammeln, die auf die Saat regnen, bis gelbes Korn auf den Feldern steht. Einst ernährte das Nordostdeutsche Tiefland die DDR mit Getreide, Fleisch und Fisch. Heute bedeutet das Gelb auf Schneiders Abzeichen wohl eher Sonne. Sonne soll Touristen anlocken. Weil von Mecklenburg-Vorpommern niemand mehr ernährt werden will.
Auch Michael Schneider war es ein Bedürfnis, sich zu kümmern. Er ging zur SPD. „Man guckt, ob Inhalte und Gesichter stimmen“, sagt er. Der Ortsverein Paulsstadt bot ihm Mitte der Neunziger einen guten Überblick, denn auf der monatlichen Sitzung hockten nur zehn, fünfzehn Leute. Bald fragte jemand: Micha, kannste das mal machen? So wurde er Vorsitzender.
Sein Ortsverein im Stadtzentrum ist attraktiv. Es kommen gebildete Leute zusammen, Juristen, Verwaltungsfachleute, Personal aus dem Landtag und den Ministerien. Die Genossen in Paulsstadt haben quasi den Fuß im Schweriner Schloss, wo der Landtag sitzt. Sie genießen, wonach sich Parteibasis bundesweit sehnt: eine stehende Leitung nach oben. Sie sind bestens über Landespolitik informiert. Am Infostand im Wahlkampf erfahren sie dann, was noch los ist. „Für die Leute gab’s nur ein Thema“, sagt Schneider. „Hartz IV.“
Auch er hat eine Arbeitslosenkarriere gemacht. Mit 62 hatte er auch keinen Job, als seine Partei von Berlin aus gerade die dritte Stufe der Arbeitsmarktreform übers Land gebracht hatte. Schneider wollte nichts mit ihr zu tun haben. Er ging vorzeitig in Rente. „Uns hier unten hat man zur Agenda 2010 doch nicht befragt“, sagt er. „Wir mussten uns arrangieren.“ Er redet, als ginge es um fieses Wetter. Als er noch Hausmeister war, kam er manchmal im Blaumann zur Ortsvereinssitzung. Die Genossen jubelten, weil einer aus der Arbeiterklasse da war. Außer Schneider ist keiner je persönlich von Arbeitslosigkeit betroffen gewesen.
Manuela Schwesig machte viel. Sie ging in den Aufsichtsrat des Schweriner Theaters, setzte Haustarifverträge durch, kämpfte dagegen, dass Sparten verschwinden. Sie rettete einen Kindergarten, der geschlossen werden sollte. „Das waren keine Heldentaten“, sagt sie, „aber die Menschen hat das bewegt.“ Sie besuchte eine Kommunalakademie der SPD, arbeitete im Stadtparlament, wurde Fraktionschefin, engagierte sich im Kreis- und Landesvorstand. Als eine CDU-Stadträtin die Partei verließ, ging sie mit der Frau frühstücken. Bald darauf engagierte die sich bei der SPD.
„Manu macht den Mund auf und sie weiß ganz genau, wann sie ihn lieber nicht aufmachen sollte“, sagt Michael Schneider. Er kann nicht sagen, wie Schwesig es anstellt, Verbündete zu finden, Netzwerke zu knüpfen, sich abzusichern. Aber wenn er über sie spricht, klingt es, als dürfte er nicht zu viel verraten. Sein Star steht über ihm. Zwischen ihnen liegt jetzt die Distanz des kleinen Genossen zur großen Politik.
Als 2007 in Schwerin ein fünfjähriges Mädchen verhungerte, berichteten bundesweit alle Zeitungen aus dem Osten. Der Oberbürgermeister maulte, das sei Pech für die Stadt. Schwesig ging sofort auf die Barrikade. Stand dort im feinen Hosenanzug, die Hände zu Fäusten geballt, unbewaffnet, mit Entsetzen in den Augen. Nicht ihr Aussehen erregte Aufmerksamkeit, sondern ihre Erscheinung. Sie blieb dort oben, bis ihre Auffassung vom Vorfall in der Stadt Konsens war: Es gibt Probleme Einzelner, für die eine Gesellschaft Verantwortung übernehmen muss.
„Sie hat keine Parteipolitik gemacht, nicht den Bürgermeister attackiert, keine Klischees bemüht, sondern mit sachlichen Argumenten überzeugt“, sagt Erwin Sellering, der damals unweit vom Rathaus im Schloss saß. Ein knappes Jahr später wurde er Ministerpräsident und macht sie zur Sozialministerin. „Eigentlich bist du zu jung“, sagte er zu ihr. Sie war sich sicher, dass er irrt.
MICHAEL SCHNEIDER, SPD SCHWERIN
Der Jurist Sellering kam 1994 mit Kind und Kegel aus Gelsenkirchen nach Mecklenburg-Vorpommern. Er war Mitte vierzig, wollte den Rest seines Lebens hier verbringen. Er betrachtete den Osten als Heimat. Heimat verlangt nach Berührung.
Scharpings Wunsch
Er wurde Verwaltungsrichter in Greifswald. Hier klagten DDR-Richter, die nicht mehr Richter sein durften, es ging um Rückgabe von Eigentum, um Rehabilitierungen. In Sellerings neuer Heimat blickte man in den Neunzigern vor allem zurück. Erinnerung war fragwürdig und übermächtig. Es war die Zeit des Ressentiments und der Schwermut. Sellering spielte mit den Ostdeutschen Schach, aber weil er dabei mit ihnen kaum reden konnte, suchte er noch einen anderen Verein. Im Westen wäre er nie in die SPD eingetreten. „Dort brauchte man mich nicht“, sagt er, „aber hier braucht man jeden.“ Er fragte sich, wie die Zukunft aussehen soll.
Er war dafür, dass Sozialdemokraten mit der PDS das Bundesland regieren. Die Koalition hatte Kraft, Ortskenntnis, war vor allem der Wunsch der Wähler. Doch der Parteivorsitzende Rudolf Scharping hatte aus dem Westen gefunkt, dass die deutsche Sozialdemokratie das nicht will. Erst 1998 traute sich Harald Ringstorff in Schwerin die rot-rote Koalition. Sie machte nicht alles richtig, aber sie war eine Antwort auf die Zukunftsfrage. Umgehend kam Sellering helfen. Er bot dem Landtag sein Fachwissen an, arbeitete im parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Bei der Landtagswahl 2002 schenkten die Menschen der SPD mehr Stimmen als zuvor.
Erwin Sellering eroberte in Greifswald das einzige Direktmandat, das Mecklenburger Sozialdemokraten je gewannen. Er profitierte von Gerhard Schröders Feldzug in der Bundespolitik. Zugleich offenbart sein Sieg, dass die SPD im Osten gewählt wird, wenn sie auch wirklich die SPD im Osten ist. Wenn sie sich ernsthaft um die Ressentiments der Ostdeutschen kümmert, anstatt sich auch noch die der Westdeutschen aufbürden zu lassen. Wenn die ihre eigenen Gepflogenheiten hat. Sellering wurde Justizminister. Saß auf Ostministerkonferenzen und fragte sich: Wie spreche ich für meine neuen Landsleute? Er entschloss sich zu: Wir sind auch wer. Er scheint, als wäre diese Behauptung mit Manuela Schwesig leibhaftig ins Schloss gekommen.
Dort sitzt sie jetzt in Landtagssitzungen. Ganz vorn mit dem Gesicht zu den Abgeordneten. Von dieser Position aus kann sie sehen, wie viele nicht zu den Sitzungen erscheinen. Was die, die anwesend sind, auf den Plätzen so machen. Sie sieht, woher Zwischenrufe kommen, das Rumgemotze, Geschmacklosigkeiten. Bei mancher vom Gemurmel unterlegten Rede scheint es, als hörte nur die Sozialministerin zu. Sie könnte da oben in den Regierungsreihen nicht nur diszipliniert sein, sondern etwas unternehmen. Das wäre von allen Veränderungen, die sie als Politikerin anstrebte, wohl die mit den geringsten Erfolgsaussichten.
Denn im noch nicht einmal zwanzigjährigen Schweriner Landtag geht es längst zu wie in allen anderen Parlamenten der Bundesrepublik. Zur Demokratie, die den Ostlern beigebracht wurde, gehört auch Parteipolitik: Rangeln um Posten, Taktieren, Ausnutzen von Schwächen, Kungeln mit Journalisten. Würde das Volk seinen Vertretern beim Vertreten zusehen, würde es dem Volksvertreten abschwören.
„Politik ist keine Zusammenkunft von Freunden, die ein gemeinsames Ziel haben“, sagt der Abgeordnete Jörg Heydorn von der SPD, der im Sozialausschuss sitzt. Auch dort arbeiten Parteien nicht einträchtig zusammen. Obwohl sie brenzlige Probleme zu lösen und eine große Aufgabe zu erfüllen haben. Denn in der Gesellschaft geht’s erst dann gerecht zu, wenn alle partizipieren können. Ausschussmitglied Marianne Linke, ebenfalls Genossin, doch bei der Linkspartei, sagt: „Der Beitrag der Ostdeutschen zur Demokratie muss es sein, die demokratischen Gepflogenheiten kritisch zu hinterfragen.“
Apparate und Akribie
Die Sozialministerin setzt auf sich selbst. Ihr Ministerium ist ein riesiger Apparat. „Er macht nicht immer, was ich will, ich muss es durchsetzen.“ Verwaltung hat sie von der Pike auf gelernt. Sie hat sich einen Politikstil zugelegt. Ein Gesetz bereitet sie gemeinsam mit Betroffenen vor. Aus ihrem Haus kommen akribische Entwürfe. Was sie vorm Parlament sagt, denkt sie sich selbst aus. Sie hat noch nie bei einer Landtagssitzung gefehlt. Sie geht zu Fuß durch die Stadt oder fährt Rad, um bei den Menschen zu sein. Sie will über Inhalte reden. Das Wort Inhalte fiel ihr beim Hinterfragen der Gepflogenheiten als erstes ein.
Wenn sie zum Schloss geradelt kommt, stehen da oft Demonstranten. Sie spricht sie an. Wem sie zuhört, hört auf zu brüllen und beginnt ein Gespräch. Am liebsten würde sie mit demonstrieren. „Ich wäre gern mal bei einer Demo gegen Atomenergie dabei“, sagt sie. In der Welt der Ostdeutschen kann seit zwanzig Jahren fast jeder jederzeit auf die Straße gehen. Die Polizei sperrt ab und sorgt dafür, dass Mitmenschen unbehelligt vorbeikommen.
Als Frank-Walter Steinmeier sie im Sommer um kompetenten Beistand als Familienpolitikerin bat, zögerte sie. Sechs Wochen vor Ultimo fällt euch das ein, so schnell kann man nicht gutmachen, was so lange schieflief. Dann brach sie ihren Sommerurlaub ab und machte sich auf den Weg nach Berlin. Auf dem Schweriner Bahnhof gibt es vier Gleise an zwei Bahnsteigen. Hin und wieder hält ein Zug.
Sie kam auf dem Berliner Hauptbahnhof an. Er besteht aus drei Etagen, achtzig Geschäften und Restaurants, wird täglich von 300.000 Menschen besucht. Vorm Portal, wo einst die Mauer stand, macht sich das durchgestylte Regierungsviertel breit. Berlin ist Hauptstadt, hier logieren Parteien, hier wird regiert, sitzen Ost und West in einem Parlament. Berlin fühlt sich an wie ein Ereignis. Schwerin war auch mal eine spektakuläre Stadt: die des Bundeslandes, in dem die meisten jungen Menschen leben. 2020 wird es die des ältesten Bundeslandes sein. Viele, die hier noch ausharren, hatten seit der Wende nie eine Chance. „Wir müssen zusehen, dass sie nicht mit 350 Euro Rente auf der Strecke bleiben“, sagt Ministerpräsident Erwin Sellering. Weiter weg von Berlin kann man nicht sein. Wenn Berlin ein Ereignis ist, dann ist Mecklenburg-Vorpommern der Tag danach.
Fotoapparate und Kameras legten schon los, als Schwesig in der Parteizentrale der SPD einen Stuhl zurechtrückte. Sie sprach von Vorschulbildung, Altenheimen, Ärztemangel, ihrem Zweifel, dass der Hartz-IV-Satz für Kinder ausreicht. Sie ließ keine effektvollen Pausen, schoss kein Wortfeuerwerk ab. Vom Inhalt ihrer Sätze berichtete die Presse kaum, nur: Die stilvoll gekleidete Blondine sei schüchtern und zurückhaltend.
In Schwerin machte das die Runde. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte das Sozialministerium fieberhaft an einem Konzept gefeilt. Es sollte der Ministerin 48 Millionen aus dem Konjunkturpaket II einbringen. Sie wollte ein Krankenhaus sanieren. Andere Minister konnten auch Geld gebrauchen. Es wurde gekämpft. Schwesig ging zu Sellering. Teilte mit: Ich bleibe hart, gehe keinen Schritt zurück. Sie bekam, was sie wollte. Schüchtern und zurückhaltend? „Darüber haben hier alle gelacht“, sagt sie.
Nach der Bundestagswahl haben sie in Schwerin nicht mehr gelacht. Zumindest nicht in der SPD, die kam in Mecklenburg-Vorpommern auf nur 18,6 Prozent. Auf der Ortsvereinssitzung in „Martins Bierstube“ in Paulsstadt redeten die Genossen so heftig, dass Michael Schneider mit dem Protokoll nicht hinterherkam. Es ging um oben und unten, um West und Ost. Manuela Schwesig sagt: „Die SPD sollte nicht nur in Berlin darüber reden, was schiefgelaufen ist. Sie sollte auf die hören, die Kommunal- und Landespolitik machen. Auf sozialdemokratische Bürgermeister in unseren Dörfern und Städten, die immer wiedergewählt werden. Und dann sollte die Partei sich zurückziehen, lange genug nachdenken und mit Inhalten wieder rauskommen.“
„Wir haben die Rote Karte gezeigt bekommen“, fügt sie hinzu, „aber zuvor haben wir zigmal die Gelbe gesehen.“ Den Satz sollte sie mit nach Berlin nehmen. Fußball, das dürften die Männer in der Parteizentrale verstehen. Schwesig sieht in der klaren Niederlage der SPD sogar etwas Gutes: „In Krisenzeiten haben Quereinsteiger wie ich bessere Chancen, zu Wort zu kommen.“
Obwohl sie in Schwerin genügend Mitarbeiter hat, werden Manuela Schwesigs Termine jetzt in Berlin dirigiert. Sie wird vom Willy-Brandt-Haus, einer Festung, durch die sich Hausfremde nicht allein bewegen dürfen, verschluckt, erscheint zu Interviews in Begleitung. Sie sitzt in Parteivorstandsrunden, aus denen nichts nach außen dringen darf. „Bei uns flogen die Fetzen, da hatte ich wirklich keinen Nerv für ihre Talkshow“, antwortet sie dem Fernsehmoderator, der fragt, warum an sie kein Herankommen ist. Vielleicht verrät sie da aus Versehen zu viel. Vielleicht weiß sie immer noch genau, wann sie den Mund aufmacht und wann nicht. „Es gibt immer welche, die Fallstricke auslegen“, sagt Michael Schneider. Er weiß nicht, wie’s in seiner Partei zugeht, aber er hat die Biografie von Gerhard Schröder gelesen. „Ein Hauen und Stechen da oben“, fasst er zusammen.
Anstatt sie zu benutzen, zu verbrauchen, zu verfuttern, könnte die SPD ihrer zukünftigen stellvertretenden Vorsitzenden aus dem Osten ein Vetorecht geben. Ein Recht, das ihr einräumt, anders zu sein. „Ich habe keine Lust, den blonden Lichtblick zu geben“, sagt sie.
Vielleicht sollten sie ihr erlauben, alles Eingespielte und immer da Gewesene zu meiden? Generell zu stören? Aber das werden sie nicht hinkriegen. Denn dann wäre das Ostpaket Dreh- und Angelpunkt der Partei.
■ Nadja Klinger ist freie Journalistin. Geboren 1965 in Ostberlin, wo sie auch heute lebt