Berliner Szenen: Vorbildlich sein
Rad-Philosophie
„Du hast die Hand rausgehalten“, sagt meine Bekannte. „Beim Abbiegen auf dem Rad. Boah!“
„Klar hab ich die Hand rausgehalten.“ Ich versteh nicht so ganz, was daran Besonderes ist. Obwohl: Sonst hält keiner die Hand raus vorm Abbiegen, da hat sie schon recht. Aber ich halt die Hand raus, weil es mich nervt, wenn ich eine Vorfahrtstraße queren will und dem Radler, der da kommt, noch durchlassen will, dadurch meine Lücke im Autoverkehr verpasse – und dann biegt der Radler einfach so ab. Voll blöd ist das, und weil das voll blöd ist, halt ich die Hand raus: damit andere nicht auf mich warten, und das voll umsonst. Nur denk ich das nicht bewusst; erst jetzt fällt mir das auf.
Als ich später nach Hause radeln will, ist es mit der Vorbildlichkeit aber schon wieder vorbei: Mein Licht geht nicht mehr. Ich fahre trotzdem; ich hab keinen Bock zu schieben. Zumindest aber fahr ich voll langsam den Radstreifen lang und noch langsamer dann, als ich seh, dass da vorne einer im Auto sitzt, parkt. Superlangsam fahr ich, damit er mich auch wirklich kommen sieht.
Als wir auf gleicher Höhe sind, schnauzt der im Auto mich an: „Geht’s noch lahmer, ey? Ich wart hier auf dich, du Spinner!“ Kaum bin ich vorbei, schert er aus auf die Straße, fährt los.
Ich schau ihm nach, verblüfft. So ist das also mit vorbildlich sein, wenn man’s extra sein will: Es klappt nicht. Null. Das ist so wie extra leise sein wollen, wenn andere schlafen. Und weil es nicht klappt und eher das Gegenteil passiert von dem, was ich mir vornehme, nämlich vorbildlich sein, nehm ich mir jetzt vor, nicht mehr vorbildlich zu sein. Und weil ja nicht klappt, was ich mir vornehm, wird’s dann doch wieder klappen mit der Vorbildlichkeit. Super ist das, denk ich, und radele ganz unvorbildlich ohne Licht weiter nach Hause. Joey Juschka
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