: „Noch zehn Sekunden leben können“
INVESTMENT Jan Philipp Reemtsma erbte einst Millionen – und tat Vernünftiges mit ihnen. Zum Beispiel gründete er das Hamburger Institut für Sozialforschung. Ein Gespräch über 60 gelebte Jahre, Angst, Gewalt und die Hoffnung
■ Geboren: 26. 11. 1952 in Bonn.
■ Familienstand: verheiratet, ein Kind.
■ Hintergrund: Erbe eines großen Vermögens (Reemtsma-Zigaretten-Konzern).
■ Beruf: Philologe, Literaturwissenschaftler, Essayist, Stifter und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
■ Neigung: Mäzenatisches im intellektuell-wissenschaftlich-gesellschaftlichen Bereich, auch Förderer der Werke Arno Schmidts. Jüngst unterstützte er die Edition der sogenannten Beneke-Tagebücher, eines Dokuments des Bürgertums des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
■ Tragödie: Reemtsma wurde am 25. März 1996 entführt und verschleppt. Diese Zeit arbeitete er in dem Buch „Im Keller“ auf.
■ Politische Meriten: Moderator im Hamburger Hafenstraßen-Konflikt; Mitinitiator der Wehrmachtsausstellung.
Gespräch JAN FEDDERSEN
Wir treffen uns im Institut für Sozialforschung am Hamburger Mittelweg 36. Jan Philipp Reemtsma ist aufgeräumtester Laune, er trägt einen Anzug aus bester hanseatischer Schneiderei. Eben hat der Fotograf ihn abgelichtet – und Reemtsma hofft, dass die Bilder ihn nicht unpässlich zeigen.
sonntaz: Herr Reemtsma, Sie werden nun schon 60 Jahre alt.
Jan Philipp Reemtsma: Ich erinnere mich an einen Nachruf auf John Lennon, als er 30 wurde – eine Fotomontage mit ihm zwischen zwei Kerzen.
Okay, so wurde der spätjugendliche Geburtstag von Lennon gefeiert. Aber 60 zu werden?
Klar, man stolpert ständig über diese Daten – also, was ändert sich mit 60? Man gibt Interviews, wie jetzt für die taz, also fragen Sie nicht mich, fragen Sie sich selbst, was Sie daran interessiert
Was sehen Sie, wenn Sie auf Ihr Leben zurückschauen?
Eines, das ich so nicht vorhergesehen hätte. Wobei ich mir nie irgendwie vorgestellt habe, wie mein Leben sein würde. Das ist mir beim Zurückblicken aufgefallen, dass ich mich nie gefragt habe: Was soll in den nächsten 20, 30 Jahren sein? In den nächsten zehn Jahren, das ist etwas anderes.
Aber das haben Sie sich doch auch mit 25 nicht gefragt?
Auch nicht, nein. In dem Alter beendet man sein Studium und fragt sich, was fange ich damit an. Aber wenn man 40 ist, dann natürlich schon. Wo steht man dann? Wo will man seine Kräfte einsetzen? Was habe ich noch nie gemacht, was will ich unbedingt noch erledigen? Nicht, weil die Uhr abläuft, sondern weil noch so viel Zeit ist.
Aber heute – haben Sie da nicht das Gefühl, dass Sie nicht mehr so viel Zeit haben, sich konzentrieren müssen?
Die Begrenztheit des Vorrats ist augenfälliger als mit 50. Ich frage aber nicht: Muss ich irgendetwas in den nächsten zehn oder fünfzehn Jahren grundsätzlich anders machen? Ich bin in meinem Leben eigentlich viel zu wenig gereist. Könnte ich sagen. Ich bin sehr wenig explorativ durch die Welt gegangen.
Und weshalb nicht?
Ich bin so nicht. Es reizt mich zu wenig. Genau darauf laufen solche Fragen ja hinaus: Würden Sie noch das und das machen? Ein Buchprojekt, das ein paar Jahre in Anspruch nimmt, würde mich mehr reizen als eine Weltreise, obwohl es viele Orte gibt, die ich nicht kenne und gerne sehen würde.
Schaut man sich Ihren Lebenslauf bislang an, ließe sich sagen: Sie haben Dinge gemacht, die Ihrem Leben nicht von vornherein eingeschrieben waren. Blicken Sie mit Wohlgefallen auf diese Entwicklung?
Mir hat mal jemand gesagt: Sie haben aber ein interessantes Leben gehabt! Da wäre ich nicht drauf gekommen. Von außen mag das so aussehen.
Wie würden Sie es denn beschreiben?
Ich habe ein paar Dinge angefangen, die ich machen wollte und interessant fand. Und das hat immer etwas nach sich gezogen. Nur sehr junge Menschen denken, dass das von ihnen selbst Angefangene auch so eintritt, wie sie es fantasiert haben.
Sie haben den Autor Christoph Martin Wieland durch finanzielle Förderung aus dem Vergessen gezogen, jüngst den Beneke-Tagebüchern zur Edition verholfen …
Ich habe einen zu wenig in seinen interessanten Facetten bekannten Autor bekannter gemacht – auch durch Geld, durch Finanzierung eines Nachdrucks seiner Werke, aber vor allem durch viel eigene Arbeit.
Und Arno Schmidt? Stimmt die Anekdote eigentlich, dass Sie eines Tages in der Lüneburger Heide an seinem Zaun ruckelten und fragten, ob er durch Sie gefördert werden möchte?
Nein.
Schade.
Eine schöne Anekdote für Journalisten, ja. Aber Sie haben mich gefragt, ob sie stimmt. Nein. Sie hat für manche den Vorteil, ihre Sicht der Dinge zu bestätigen: Ein nicht mehr ganz Jugendlicher, der nicht ganz richtig tickt, trifft einen sonderbaren Autor. Freundlicher: Der eine Eigenbrötler trifft den anderen. Die Beschreibung stimmt nur nicht.
Aber wenn Sie sich diesen jungen Mann Anfang 20 anschauen, der sich mit Arno Schmidt beschäftigt, der da nicht ganz richtig tickt – sehen Sie sich aus der Distanz heute auch ein bisschen so?
Nein. Konnte ich eine bessere Idee haben? Was sich daraus ergeben hat, war aber nicht vorauszusehen. Es war ja nicht abzusehen, dass Arno Schmidt dann bald sterben würde. Dann lag nahe, dass ich mit der Witwe darüber sprechen würde, was aus dem Nachlass werden solle. Und dass ich jemand war, der über die Mittel verfügte – ich spreche über Geld, aber nicht nur –, daraus etwas machen zu können. Das, wenn Sie’s so wollen, war dann ab einem bestimmten Zeitpunkt absehbar. Zur Anekdote: Ich habe mit circa 24 Jahren beschlossen, Schmidt aufzusuchen – wobei ich nur wusste, in welchem Ort er wohnte. Vielleicht hätte ich ja Glück und träfe ihn – spreche mit ihm über seine Lebenssituation –, biete ihm an, ihn finanziell zu unterstützen.
So gibt es im Leben Konstellationen, nicht wahr?
Ja, manchmal ergibt sich etwas. Zuweilen etwas, das ich dann als latent verpflichtend empfunden habe.
Wie kam es zur Beachtung von Arno Schmidts Lebenssituation?
Er hat mehrfach darüber geschrieben, wie er seine eigentlichen Werke durch Brotarbeiten finanzieren müsse. Die Schnittmenge von Leuten, die sich schon auf dieses Werk eingelassen hatten und mit gutem Recht sagen, dass er zu den großen Autoren des 20. Jahrhunderts gehöre, und, ich würde sagen, der bedeutendste nach 1945, und denen, die über Mittel verfügen, so einen Schritt zu tun, ist doch sehr gering. Darum hatte ich das Gefühl, daraus irgendeine Konsequenz ziehen zu sollen.
Solche eine Schnittmenge gab es bei anderer Gelegenheit doch auch – etwa bei den Unruhen rund um die Hamburger Hafenstraße.
Ja, wer konnte schon gleichzeitig mit Leuten aus der Hafenstraße reden und mit dem Bürgermeister – könnte man sagen. Aber ich war doch kein Diplomat. Ich war jemand, der sich auf den Fluren der Hafenstraßenhäuser und denen des Rathauses gleich wenig wohlgefühlt hat. Das war vielleicht eine gute Voraussetzung und ich konnte mit beiden Seiten reden, Kontakte herstellen.
Man kann in den großbürgerlichen Elbvororten wohnen und hat aber dennoch zu den Schmuddelvierteln auf St. Pauli einen Draht?
Und wenn der Kontrast, den Sie zeichnen möchten, mit mir wenig zu tun hat?
Aber Sie haben doch die richtige Fahrkarte für den Spirit der Elbvororte.
Habe ich den Spirit der Elbvororte? Was ist das denn? Wie sehr bedingt der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, eine Milieuzugehörigkeit? Kaum.
Sie haben immer gewusst, dass Sie über viel Geld verfügen. Sie wollten damit stets Gutes?
Vernünftiges. „Gut“ – im Sinne von „vernünftig“, ja.
Jugendliche Menschen sagen eher: Ich will das, und ich mach das, und ich zieh das jetzt durch. Menschen in den Dreißigern lernen, dass der eigene Einfluss begrenzt ist. Man muss Kompromisse machen, man kann nicht alles, und man selber ist eher irgendwie schmal in den Durchsetzungsfähigkeiten. Ich stelle mir vor, dass Sie immer wussten: Das Vernünftige kann ich zu realisieren mithelfen.
Ich glaube, auch ehe ich ein Mittzwanziger war, waren meine diesbezüglichen Flausen gering ausgeprägt. Es ist viel Geld, ja. Aber dass man damit den Himmel einreißen könne, das Gefühl hatte ich nie. Ich glaube, ich wusste, dass das, was man mit Geld machen kann – auch wenn es sehr viel ist –, begrenzt ist.
War Ihre eigentliche Leistung nicht die Etablierung der Wehrmachtsausstellung?
Das hat mir neulich jemand gesagt. Wenn ich sonst nichts erreicht hätte im Leben? Sicher, ohne mich hätte es sie nicht gegeben, aber ohne die Arbeit vieler anderer eben auch nicht. Wenn ich aber nur über mich reden soll und mich von außen ansehe, könnte ich wohl sagen, dass wir damit dieses Land ein wenig verändert haben.
Die Wehrmachtsausstellung hat bewirkt, dass es inzwischen in der Bundesrepublik einen neuen Konsens zum Nationalsozialismus gibt.
Ja, und es brauchte zwei Ausstellungen – die erste, die agitatorischer, aber auch in mancher Hinsicht fehlerbehaftet war. Und die zweite, die sie ausräumte und einen anderen argumentativen Duktus hatte – aber: dasselbe Thema, dieselbe These. Und nun gibt es diesen öffentlichen Konsens, den es 1995 noch nicht gab, nun kann die Welt in einer Rezension eines Buches vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt schreiben: Wie seit Jahren unumstritten, hatte die Wehrmacht als Organisation aktiv teil an den damaligen NS-Verbrechen. So hatte ich das über viele Jahre wörtlich immer wieder in Interviews gesagt – und mir Ärger eingehandelt. Aber wenn Sie erreicht haben, ohne Quellenangabe zitiert zu werden, dann haben Sie eine Meinung wirklich durchgesetzt.
Über den Boxer Muhammad Ali schrieben Sie in einem Buch, er habe die Welt ein bisschen besser gemacht. Sie auch?
Sehen Sie mal, wenn ich jetzt sage, ja, dann machen Sie daraus eine kleine Zwischenzeile, und daraus wird dann die Pointe des Interviews. So hat mich vor Jahren mal einer gefragt, als ich gerade das Institut gründete: Was willst du eigentlich, die Welt verbessern? Was sagt man auf so was? Also, schlechter machen will ich sie nicht, aber ein sozialwissenschaftliches Institut zu gründen, um die Welt zu verbessern? Ach, du lieber Gott.
Sie haben auch die Gewaltforschung in den Mittelpunkt öffentlicher Wahrnehmung gerückt. Dazu zählt auch Ihr Buch „Vertrauen und Gewalt“. Vertrauen ist dort Ihr entscheidendes Wort. Kann man in die Welt überhaupt Vertrauen haben?
Vertrauen und Misstrauen, je nachdem. Zum Leben in einer Gesellschaft gehört eine Idee von Normalität, die man beim Handeln immer bis zu einem gewissen Grade unterstellt. Vertrauen ist in diesem Sinne der Grund sozialen Zusammenhalts. Mein Vertrauensbegriff ist ein sehr minimalistischer. Sie können nicht stets alles für möglich halten, sonst werden Sie verrückt. Zum Handeln gehört die Voraussetzung von Normalität, von Wahrscheinlichkeiten. Das heißt nicht, dass Sie die Welt, in der wir leben, angenehm oder für moralisch gerechtfertigt halten müssen, und so weiter. Aber Sie können – Sie müssen – sich in ihr bewegen. Die große Bedeutung des Werks von Kafka besteht unter anderem darin, zu beschreiben, was mit jemandem passiert, der sich plötzlich in einer Welt wiederfindet, wo er diese Normalitätsunterstellungen nicht machen kann. Er versucht stets, ein neues Bild der Welt, mit der er konfrontiert ist, zu entwerfen, eine neue Art von Normalität zu unterstellen, aber er scheitert.
Aber Angst wird häufig als zeitgenössisches Grundgefühl beschrieben.
Die Frage ist immer: wovor. Befürchtungen und Ängste mögen diffus sein, ganz ungerichtet sind sie doch nicht, vor allem: Sie können nicht mit einer vollständigen Unsicherheit leben. Wir haben ein paar historische Bespiele, was passieren kann, wenn dieses Vertrauen grundsätzlich erschüttert wird.
Bitte!
Anthropologen beschreiben, dass es in der Karibik einen Kulturschock gegeben hat, als die Spanier dort hinkamen. Die Einwohner dort hörten auf sich fortzupflanzen. Und wenn sie es doch taten, brachten sie die Kinder um. Die spanischen Kolonisatoren sagten dann, die Ureinwohner seien zu faul zu arbeiten, dass sie sich stattdessen lieber töten würden. Aber sie wussten überhaupt nicht, was vorging. Das war eine solche Grundverstörung. Die konnten Sie auch bei den Massenbombardements von Dresden oder Hamburg beobachten. Es gab Menschen, die wussten, im Fluss, da kann man überleben – aber es gab welche, die so verstört waren, dass sie zu solchen Gedanken nicht mehr in der Lage waren, sie wussten nicht mehr, wie sie sich retten konnten, sie wussten in gewissem Sinne gar nichts mehr.
1996 wurden sie entführt und in einem Keller gefangen gehalten, es ging darum, Lösegeld zu erpressen. Ist Gewalt seitdem für Sie ein besonders intensives Thema geworden?
Nein, das Thema begleitet das Institut von der Gründungsphase an. Zu den ersten Themen gehörte, genauer zu untersuchen, was in Ländern unter Regimes, die zum politischen Instrument der Folter greifen, eigentlich geschieht.
Wie weit weg ist Ihre Entführung?
Das können Sie bei solchen Ereignissen – oder sagen wir: Erlebnissen, Erfahrungen – nie so eindeutig beantworten. Das ist einerseits ganz weit weg. Fast 16 Jahre eben. Aber wenn wir jetzt darüber sprechen würden, könnte ich das in fast jedem Detail genau vergegenwärtigen und beschreiben, ohne mich lange besinnen zu müssen. Das ist bei anderen Erinnerungen anders.
Nimmt die Intensität der Erinnerung ab?
Nein, sie bleibt konstant.
Alltäglich – oder nimmt die Häufigkeit der traumatischen Flashes ab?
Die hatte ich nie. Plötzliche Vergegenwärtigungen schon. In der Zeit nach der Entführung hatte ich Albträume. Die habe ich nicht mehr. Jedenfalls nicht so, dass ich daraus aufwache – was weiß man schon über Träume, an die man sich beim Erwachen nicht erinnert. Aber sehen Sie, ich war jetzt in der Inszenierung im Hamburger Thalia-Theater, „Jeder stirbt für sich allein“. Da gibt es eine Szene, wo jemand in einem Wald erschossen werden soll, und diesen interessanten Moment: Jemand weiß, dass sein Leben jetzt zu Ende ist, er wird gleich umgebracht werden, und er möchte es durch ein Minimum an Reden noch zehn Sekunden verlängern. Er wendet sich an seinen Mörder und sagt: „Halt, halt, bevor Sie jetzt abdrücken …“ Irgendwelchen Unsinn erzählt er ihm. Um noch zehn Sekunden leben zu können.
Hatten Sie damals solche Fantasien?
Ich wusste ja nicht, dass ich überleben würde. Also habe ich mir mein Ende vorgestellt. Das Szenario ist vielleicht: ein Wald und dort werde ich erschossen. Wie wird das sein? Ich wusste, ich würde mich benehmen wie wohl jeder andere auch. Ich werde versuchen, noch zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, eine halbe Minute herauszuschinden. Völlig absurd, aber das werden die meisten so tun. Das wurde dort also auf der Bühne gespielt und plötzlich war alles da, und ich dachte: ja. Genau so wär’s gewesen.
Cool fand ich, dass Sie einmal sagten, Sie werden Ihren Entführer, Thomas Drach, bis ans Ende seiner Tage verfolgen, das Lösegeld zurückholen, denn er solle nicht belohnt werden für die Tat.
„Cool“ –? Nun, so ein Zeug wie „bis ans Ende meiner Tage“ habe ich gewiss nicht gesagt. Was stimmt, ist, dass mir der Gedanke äußerst unsympathisch ist, dass für manche das Leben dieses Menschen trotz der verbüßten Gefängnisstrafe vielleicht als ein Erfolg angesehen wird. Solche Verbrechen sollten als Misserfolge enden und als Misserfolge wahrgenommen werden. Wenn ich etwas dazu tun kann, wäre mir das schon recht.
Muss man nicht, was die Intensität der Verfolgung eines Peinigers angeht, auch mal loslassen können?
Ich verfolge doch gar nicht – das tut die Polizei. Der Platz, den Gedanken wie der, was ich dazu tun könnte, dass das gezahlte Lösegeld noch einmal irgendwo auftaucht, in meinem Leben einnehmen, ist gering. Man darf sein Leben nicht durch ein Verbrechen, dessen Opfer man geworden ist, definieren lassen.
Glauben Sie, dass Sie Ihren Enkeln irgendwann dieses gewalttätige 20. Jahrhundert erklären können?
Das ist eine interessante Frage. Die sind so jung, dass ich noch gar nicht in die Verlegenheit komme, solche Gespräche zu führen. Aber zu erklären gibt es da nichts, zu beschreiben, was geschehen ist, das ja. Ich finde aber nicht so sehr den historischen Abstand, der sich in Jahreszahlen messen lässt, interessant, als den, der bestimmte eingetretene historische Normalitäten kennzeichnet. Ich bin jemand, der in die Situation des Kalten Krieges hineingeboren ist und das Existieren von zwei Machtblöcken als etwas Unverrückbares wahrgenommen hat. Für meinen Sohn ist die Nichtexistenz der DDR schon als Zehnjähriger eine politische Selbstverständlichkeit gewesen. Für meine Großeltern war Frankreich der „Erbfeind“, ich habe solche Formulierungen über meine Eltern noch verstanden, denn das Thema „Versöhnung mit Frankreich“ hat ja die 50er geprägt. Für die Generation meines Sohnes ist das so weit weg, dass es kaum noch Wirklichkeitsähnlichkeit hat. Also Friedensnobelpreis für die EU – warum nicht? So ein Unterschied ist doch einer ums Ganze. Was immer sonst mit Europa sein mag. Aber dieses: ja.
Man liest oft: „Immer mehr Menschen werden arm“ oder „Immer mehr Menschen hungern“. Trifft es zu, dass die Welt eine immer schlechtere wird?
Nein. Um auf etwas hinzuweisen, das schlecht oder mehr als das ist, muss man nicht behaupten, dass es natürlich immer schlechter werde. Sie können die Tatsache, dass es in einem Land wie Deutschland so viele Armutskarrieren gibt, für einen moralischen Skandal halten, ohne die Rhetorik des „immer mehr“ zu benutzen. Wenn es in Indien keine Hungersnöte mehr gibt, heißt das doch nicht, dass es keine furchtbare Armut mehr gibt.
Haben Sie konkretere Pläne für zwei, drei, zehn Jahre?
Und über die rede ich dann in der Zeitung? Nun, das Hamburger Institut für Sozialforschung hat eine erfolgreiche Geschichte gehabt, und die sollte sich fortsetzen, auch wenn ich irgendwann keine aktive Rolle in ihm mehr spiele. Ich habe mir Gedanken zu machen, wie das aussehen wird.
Also, Herr Reemtsma, irgendwann werden Sie in den Ruhestand gehen?
Ja, in dieser Hinsicht schon. Aber sonst? Jemand, der lesen und schreiben kann, geht nie in den Ruhestand. Was soll das denn auch sein?
■ Jan Feddersen, 55, ist taz-Redakteur. Er hat kein Vermögen geerbt, ist aber gebürtiger Hamburger