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Etwas fehlt in diesem Leben immer

Klassiker Das erstmals Ende der Achtziger aufgeführte Stück „Palermo Palermo“ von Pina Bausch erlebt eine spannende Reinszenierung im Haus der Berliner Festspiele

Mit großer Geste Wilhelm-Tell-mäßig einen Apfel auf dem Kopf balancieren. Bitte nicht schießen Foto: Jochen Viehoff

von Katrin Bettina Müller

Das persönliche Unglück und eine große Katastrophe, sie liegen nah beieinander in den ersten Szenen von „Palermo Palermo“. Eine Mauer stürzt ein, fällt rückwärts auf die Bühne – dann beginnt das Stück von Pina Bausch zwischen den Trümmern. Eine große blonde Amerikanerin ruft zwei Freunde zur Hilfe, „Küss mich, halt meine Hand“, die Freunde kommen, und sie gerät bei der Erfüllung in Wut. Glocken läuten, etwas explodiert, Menschen rennen, klettern eine Wand hoch. Wasser ist kostbar, wird von Hand zu Hand weitergereicht, bald ist es fort. Für Momente denkt man an eine Stadt nach einem Anschlag, wenn Rationalität knapp ist und Entgleisung der Gefühle naheliegt.

Bald aber verlangsamt sich das Tempo in „Palermo Palermo“. Das Stück vom Tanztheater Wuppertal gastierte für vier Tage im Haus der Berliner Festspiele, begleitend zu der Pina- Bausch-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. 25 Jahre sind seit der Entstehung von „Palermo Palermo“ vergangen, sieben Jahre seit dem Tod der Choreografin 2009. Ihre Stücke werden seither vom Wuppertaler Tanztheater aufgeführt, Wiederaufnahmen entwickelt. Man schaut sich ein Stück von ihr, die jede Szene in Kommunikation mit ihren Tänzern entwickelte, heute auch etwas ängstlich an – wie ein kostbares Erbe. Wie werden sie, ohne das Gegenüber der Choreografin, die Rollen weiterleben, wenn sie sich selbst verändern und die Welt, in der sie leben?

„Palermo Palermo“ ist gut gealtert. Der Vorstellungsrahmen, den die rauen Musiken, darunter Volkslieder aus Sizilien oder afrikanische Gesänge, und ein großer Teil der Bilder von der Suche nach Überlebensstrategien und Überwindung von Not öffnen, lässt neue und gegenwärtige Assoziationen zu. Viele der Tänzer sind älter geworden, aber auch das passt gut zum Duktus der Geschichten. Man sehe sich nur diese beiden Latin Lover an, in verstaubten, übergroßen Mänteln, die sich das Haar mit Zitronensaft glätten, in den Augen das Glitzern eines Lebens, das hier schon lange nicht mehr stattfand.

Mehrmals tritt eine klagende Frau im langen schwarzen Witwenkleid auf; nein, eigentlich wird sie hereingetragen von fünf helfenden Männern, die sie unterstützen in ihren Gesten von Rache und Anklage. Sie hat Gegner, die beschämt vor ihr stehen. Sie pinkelt ihnen vor die Füße mit einer großen zwischen die Schenkel geklemmten Wasserflasche. Und sie bespuckt sie in einem kunstvollen Akt, in dem ein Tänzer die zierliche Frau, die ein volles Wasserglas in der Hand hält, um die Taille packt und so schnell einmal um ihre Mitte wirbelt, dass das Wasser in hohem Bogen in die Richtung des Beschuldigten fliegt. Natürlich muss man lachen ob dieser verblüffenden, sich mehrmals wiederholenden Zirkusnummer, die das Bittere und Dramatische der Szene bricht. Aber zugleich auch etwas von der Anstrengung, dem Aufwand verrät, die innerliche Wut und Entschlossenheit aufrechtzuhalten.

Klagende Frauim langen schwarzen Witwenkleid,pinkelnd

Gefühle sind nicht einfach da, sie werden inszeniert. Davon erzählt Pina Bausch, die große Beobachterin, in vielen Stücken; oft in verspielten und zugleich grotesken Situationen. Hier gibt es einen Mann, der sich Fleisch aus seinem eigenen Arm schneidet und es auf dem Bügeleisen brät; er hat sich in einer grausigen und skurrilen Ökonomie eingerichtet. Seine Welt kommuniziert so wenig mit der der anderen wie die der Frau, die, ein Bündel Spaghetti unter den Arm geklemmt, jede Nudel einzeln vorzeigt und als ihr Eigentum benennt, das sie niemand leihen wird. Als Gast bewirtet wird nur ein Hund.

„Palermo Palermo“, eine Koproduktion mit dem Teatro Biondo Stabile aus Palermo, entstand in der sizilianischen Stadt und erinnert nicht von ungefähr an das Italienbild des Neorealismus. Die Musik klingt nach Süden, nach Ferne, nach früher. Blues und Trauermärsche gehören dazu, die einige der großen Ensembleszenen begleiten, in denen fast dreißig Männer und Frauen feierlich auf das Publikum zuschreiten, dabei mit großer Geste Müll verstreuen oder einen Apfel auf dem Kopf balancieren. Das sind Bilder, die von der Kraft eines Gemeinsamkeit stiftenden Rituals erzählen, aber auch von der Not, etwas nicht mehr mit Sinn füllen zu können. Etwas fehlt in diesem Leben immer, und die Suche nach Ersatz bringt ihre eigene, oft erschreckende Dynamik hervor.

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