Dramatiker des Alltags

Harold Pinter begründete in Großbritannien ein politisches Theater, das genauestens soziale Wirklichkeit beobachtet

von DOMINIC JOHNSON

Dass Harold Pinter ausgerechnet am 80. Geburtstag seiner politischen Erzfeindin Margaret Thatcher den Literaturnobelpreis kriegt, ist eine List der Geschichte, auf die die Figuren seiner Dramen stolz wären. Der große Erneuerer des britischen Theaters in der Nachkriegszeit erzeugt dramatische Spannung nicht mit Wortgewalt, sondern mit Kargheit und dem treffenden Ausdruck zum richtigen Augenblick. Insofern hat das Nobelpreiskomitee mit seiner Kür gestern eine unbewusst tiefgründige Entscheidung getroffen.

Am vergangenen Montag 75 geworden und in der Erholungsphase einer schweren Krebsbehandlung, ist Pinter heute eine Art Günter Grass der englischen Literatur, der erhobene Zeigefinger in Person, eine moralische Instanz der Linken mit teils absurd extremen Positionen. Die Regierung Blair hält er für eine Katastrophe, die USA sind für ihn der Inbegriff des Bösen in der Weltpolitik, sein Lieblingspolitiker ist der abgefallene Labour-Dissident George Galloway. Man hört ihm eigentlich gar nicht mehr zu, und man hört auch wenig von ihm, aber man würde ihn missen, wenn er nicht ab und zu doch noch etwas sagen würde.

Dabei hat Pinter nie ein politisches Theaterstück geschrieben. Es sind allesamt Gesellschaftsdramen, Miniaturen zwischenmenschlicher Abgründe, deren Handlung meist völlig banal ist, aber die Zuschauer dennoch tief verstören kann. Ein Grundmoment durchzieht sie alle: Man kennt andere Menschen nie – wie gut man sie auch zu durchschauen glaubt. Pinter stellt nicht erst ein paar typische Charaktere auf die Bühne, die dann miteinander etwas anstellen. Es geraten Menschen miteinander in Verbindung, die sich fremd bleiben und dem Publikum auch. Aber das, was sie tun, ist oft allzu vertraut.

Pinters Spannung wirkt durch die Sprache. Er setzt bewährte Mittel der englischen Volkskomödie ein – eigenwillige Ausdrucksweisen, Slang, Akzente, Pausen, Schlagfertigkeit –, um damit das Gegenteil von Komik zu erzeugen. Genauestens der Alltagssprache abgeguckt, können die Stücke dabei selbst in ihren schrecklichsten Momenten extrem witzig sein, wenn man nicht aufpasst. Das macht sie populär, auch wenn sie eher surreal sind. Diese Sensibilität hatte Pinter vielen seiner Zeitgenossen voraus, als er Ende der 50er-Jahre zusammen mit den anderen Theaterschriftstellern der Generation der „Angry Young Men“ die Bühnen Englands stürmte. Und in seiner erfolgreichsten Zeit betonte er immer, dass ihn Politik überhaupt nicht interessiert. Aber auch die schonungslose Beobachtung sozialer Wirklichkeit ist politisch. Das hat Pinter erkannt und daraus sein Lebenswerk gemacht.

Außerhalb Englands mit seiner Tradition, politisches Handeln eher aus realen als aus ideologischen Fragestellungen abzuleiten, wäre das wohl nie geglückt. So aber machte die Hinwendung zum wirklichen Leben unter dem Einsatz von Sprachkunst auf allerhöchstem Niveau erst die Erneuerung des englischen Dramas möglich, aus der in der Thatcher-Ära eine neue Generation der politischen Satire und jetzt in der Krise des Blairismus eine Renaissance des politischen Theaters geworden ist, die in anderen Ländern ihresgleichen sucht. Man kann Pinter dabei höchstens ankreiden, nicht gegen die ideologischen Verbohrtheiten und Sprachverrohungen anzugehen, an denen die neue englische Linke leidet.

Aber das entspricht ihm. Oft hat er betont, man müsse ehrlich sein und dürfe sich nicht überschätzen. Was er selbst über etwas denkt, hat er nie für besonders bedeutsam erachtet. Was jetzt die Welt über ihn denkt, wird ihn vermutlich ebenso wenig interessieren.