kritik der woche : Toleranz durch Kapitalismus: „Nathan der Weise“ am Schauspiel Hannover
Einmal repräsentativ befragt, äußert sich der Deutsche mehrheitlich im Geiste von Lessing dem Weisen, dem Märchen-Kant der Aufklärung. 70 Prozent der Bundesbürger, so die Demoskopen von TNS Emnid, sehen ihr Weltbild in der Ringparabel des „Nathan“ versinnbildlicht, meinen also, Jude, Christ und Muslim seien Nachfahren eines gemeinsamen Ursprungs des Glaubens.
So sehen es auch die Heiligen Schriften. Für die mosaische und christliche Sicht der Dinge gilt die Talmudthese, „mit dem Stempel des Urmenschen“ Adam seien wir alle zu Brüdern „geprägt“ worden. Während der Koran sagt, dass Gott die Menschen auf gleichwertige Religionsgemeinschaften verteilt habe, um sie zu prüfen: „Wetteifert darum miteinander in guten Werken.“ Das hat, Fluch der Geschichte, bisher nicht so gut geklappt.
Der Glaube ermuntert vielmehr häufig die schlechten Instinkte der Ausgrenzung, die sich in Mitleid, Verachtung, Feindschaft und Krieg äußern. Der Widerspruch von edler Menschenbrüderschaft und der historischen Realität gelebten Hasses hat Lessings humanes Werk mit Bitterkeit imprägniert, so dass sich der Schweizer Regisseur Christoph Frick nur misstrauisch nähert. Das Schauspielhaus Hannover darf nicht zur Kanzel philosemitisch sich aufspielender Betroffenheitskultur werden.
Also wird klug verschlanktes, angenehm präzise geführtes Schauspieler-Theater serviert. Frisch und unverbraucht klingt das wortreiche Räsonieren, kunstvoll lebendig wirken die mathematisch gezirkelten Auftritte. Sprachgestus, Kostüme, Haltungen sind heutig. Die exotische Versöhnungsfabel aus dem mittelalterlich geträumten Multikulti-Jerusalem, wo Liebesrausch und Vernunftreligion den Glaubenskrieg befrieden, wird mit kühlem Charme in die Vorstandsetagen globalisierter Unternehmen verlegt – auch wenn nur ein Sandgeviert auf der ansonsten leeren Bühne zu sehen ist.
Die Inszenierung zeigt, dass nicht Idealismus und unmenschliche Güte, sondern Geschäftssinn die religiösen Differenzen überwindet. In Lessings Diskursethik entdeckt Frick eine vor allem kapitalistisch begründete Toleranz. Nur so sind Geschäfte mit Vertretern anderen Glaubens zu tätigen. Nur so ist zu verstehen, dass der Jude die moslemische Kriegskasse bestücken will, um mit Zins und Zinseszins daran zu verdienen.
Hannes Hellmann spielt Nathan als einen Logozentriker, der das Geschliffene seiner Weisheit unterläuft. So wie Lessing der antisemitischen Fratze einen weisen Juden entgegenstellte, stellt Hellmann dem allzeit klugen Hebräer den cleveren Unternehmer entgegen. Jetzt fällt er kaum mehr auf in der „Nathan“-Gesellschaft, so dass Lessings Finale Bühnenwirklichkeit werden könnte: „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang.“ Bei Frick aber erstarrt das Ensemble, einander entfremdet, verwirrt – während Nathan an seinen Außenseiterstatus erinnert wird. Jens Fischer
nächste Vorstellungen: 25.10. und 2.11. um 19.30 Uhr im Schauspiel Hannover