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Verlorene Wetten um einen schneefreien Winter und der betont gelangweilte Gesang von Courtney BarnettDie schönen Seiten der frühen neunziger Jahre

Ausgehen und rumstehen

von René Hamann

Am Sonntagmittag brach plötzlich der Winter aus. Wir saßen da gerade im Lieblingscafé, Fensterplatz, neben uns zwei Französinnen, die sich nicht über die Anschläge in Paris unterhielten. Als sich die Sonne noch einmal kurz heraustraute, beschlossen wir, einen Spaziergang zu machen, aber der führte nicht weit. Schon der Pavillon am anderen Ufer des Kanals sah aus wie ein verschneites Hexenhaus. Es lag wirklich Schnee. So früh wie dieses Jahr habe ich die Wette um einen schneefreien Winter in Berlin in Zeiten des Klimawandels noch nie verloren.

Schon am Samstagabend war es kalt gewesen, aber geschneit hatte es noch nicht. Ich fuhr mit der U-Bahn vom Hermannplatz aus und beobachtete zwei junge Frauen, die eine kurz und kurzhaarig, die andere leicht füllig und mit eckiger grüner Brille und bunt bedruckten Gummistiefeln. Sie tauschten lebhaft Bürogeschichten aus und stiegen mit mir um und stiegen mit mir aus, und später standen sie zwei Meter vor mir auf dem Konzert von Courtney Barnett. Ich kam mir stalkerhaft vor, aber das war keine Absicht gewesen. Es war irgendwie auch egal. Im Publikum fanden sich erstaunlich viele Frauen; der Altersdurchschnitt war angenehm.

Courtney Barnett hat mir gefallen. Sie hatte zwei zottelhaarige Rhythmusfraktionsmitglieder dabei, und zu dritt lieferten sie eine erstaunlich laute Rockshow ab. Gut, es war zum Glück mehr Grunge Rock als Rock Rock, aber Rock war es eben doch. Courtney Barnett hatte eine Röhre, die manchmal an Janis Joplin erinnerte, und auch so eine rockistische Körperhaltung, aber die gleichgeschlechtlich liebenden Frauen stehen drauf. Die anderen auch. Und Männer ebenfalls.

Dreiviertel des Konzerts war super, dann ermüdete ich zusehends, was nur einerseits an der lang durchgequatschten Nacht zuvor lag. Es lag auch daran, dass sich die Struktur der Songs auf Dauer doch recht ähnelte: meist dramatischer Aufbau, ruhiger Anfang, große Steigerung zum Ende hin oder eben: Bob-Dylan-haftes Genöle, dann lieblicher Refrain, Noiseattacke als Mittelteil und wieder alles von vorn. Die schnellen Stücke klangen wie die frühen Nirvana-Singles.

Aber ich mag das betont Gelangweilte ihres Gesangs. Es erinnert mich an die schönen Seiten der frühen neunziger Jahre. Das Jungsein. Das Slackertum. Eine Welt aus Proberäumen, Lieblingskneipen, Hörsälen, WG-Zimmern, Plattenläden, Antiquariaten, Second-Hand-Geschäften und Cafés. Und mehr nicht. Man hatte kaum Geld, und das war irgendwie auch egal. Man jobbte fürs Fernsehen oder fürs Theater und schaute sich die schimmernde Welt von unten an: irgendwie interessiert, aber irgendwie auch grundsätzlich gelangweilt.

Um den beiden Frauen, die ich bis zum Konzert begleitet hatte, ihre Freiheit zu lassen, ging ich nach dem Konzert einen anderen Weg zurück. Auf dem Dach des Wohnturms „Living Levels“ prangte statt der lahmen Leuchtschrift die Tricolore. Aus einem Zirkuszelt auf dem Baugelände neben der Arena drang Jubel. Über die Außenfenster der Arena strich Werbung für eine Biersorte. Die Autos im Mercedes-Showroom sahen klobig und unschön aus. Hier war also das Kapital gelandet. Die neunziger Jahre sind lange vorbei, die damalige Idylle hatte sich irgendwann als Illusion entpuppt, es gab keine statuskampffreien Zonen. Auch Courtney Barnett wird Konkurrenz gehabt haben, die liegen geblieben ist. Sie weiß es selbst. Vielleicht ist sie jetzt noch der Clown des Jahres, aber schon nächstes Jahr wird sie der Clown des Vorjahres sein.

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