: Gott mit Haltungsschaden
AUSWÄRTSSPIEL Das Gerhard-Marcks-Haus setzt die Kunst-Kauz-Tänzerin Gertrud Schleising auf ihren Hausheiligen an, um dessen sanften Humor zu offenbaren
von Jens Fischer
Er war ein Meister der Reduktion naturalistischer Formensprache. Aber ein Schelm? Wider die ästhetische Noblesse seiner Skulpturen, versucht das Gerhard-Marcks-Haus mit seinen umbaubedingten Stadtteilaktivitäten im Werk des Namenspatrons sanften Humor zu entdecken. Wurde kürzlich im Atelierhaus Roter Hahn ein Orpheus gezeigt, dem Marcks die klassischen Attribute verweigerte, ist dort nun erneut eine Bronzefigur zu sehen, die nicht scheint, was sie ist: „Silvanus“ (1962). Mythologisch tanzte der schon für die Etrusker durch Felder, Wälder und über Wiesen, hieß Selvans, wurde aber von den alten Römern adoptiert und sein Name adaptiert: Selvans und silva (Wald) ergab Silvanus.
Hirten, Bauern, Winzer, Waldschrate und Freunde okkulten Tanztheaters huldigten ihm, schufen Bilder von ihm. Bocksfuß, Pinienzapfen, Tierfell, kumpeliger Hundebegleiter, Lilienschmuck oder Sichel: Keines der eingeführten Kennzeichen hat Marcks gestaltet. Und statt eines ekstatisch glühenden Blicks – nur miesepetrige Versonnenheit. Doch das Werk ist „Silvanus“ betitelt. Schummelei oder feinsinniger Spaß? „Zu sehen ist ein alter Tänzer – in der Pose einer Tänzerin“, sagt Bremens Ober-Marcksist Arie Hartog, „dieses Spiel mit Konventionen macht den Bildwitz aus.“ Marcks, der kleine Schelm, hat aber keine Chance gegen die assoziierend auf ihn angesetzte Kunst-Kauz-Tänzerin Gertrud Schleising. „Körper im Gleichgewicht“ hat sie auf den Sockel des Marcks’schen Werkes geschrieben, „Gewicht zwischen den Füßen, die 4. Position, woher – wohin“? Eine Ballettstange zum Probieren ist vorhanden.
Und die majestätisch versteifte 4. Position des klassischen Balletts wird erklärt: „Der vordere Fuß steht ausgedreht und rechtwinklig vor dem hinteren Fuß, der Abstand zwischen den Füßen beträgt 20 Zentimeter.“ Schwierig und unbequem. Fördert den Impuls, die Körperspannung sofort im Tanz zu entladen. Ist der „Silvanus“ da vorbildlich? „Nein“, sagt Schleising, „bei ihm sind Haltungsschäden vorhanden, auch die Außendrehung der Füße ist nicht perfekt, der muss noch üben.“ Wollte Marcks die Künstlichkeit des Balletts, inklusive Mechanisierung der Körper, ironisieren? Solche Fragen gehen unter im Tohuwabohu der Ausstellung „Forever young. Gertrud Schleising bittet Gerhard Marcks zum Tanz“, die absichtsvoll in das angrenzende Café hineinwuchert.
In Schaukästen und an einer großen Wand kombiniert Schleising Schnipsel aus Zeitschriften, Tüdel aus Kellerecken und Malerei, um ihre Silvanus-Geschichten zu erzählen. Tanzlegende Rudolf Nurejew lehnt lässig an einer Aktenordnerklammer und steigt mit Vertretern anderer Künste den Olymp hinauf, der auch ein Pinienzapfen oder eine Eichel sein könnte. Aus Reproduktionen von „Venus mit Amor“, die Lukas Cranach (der Ältere) 1530 malte, hat Schleising den Amor weggeschnippelt, die Venus grob ausgeschnitten und beim alten Tänzer einhaken lassen – zu Pas-de-deux-Szenen einer Ehe.
Unter einer Wäschespinne stehen beide dann mit Wischmopp und Kleinkind und werden Teil eines Plattenbaus. Vortänzer Dionysos treffen sie in einer Disco voller Tanzmausklone. Für die Assemblagen auf den Café-Tischen klebte Schleising Styroporreste aneinander und stellte Nippes wie ein Porzellanschwänchen daneben, das in Omas Wohnzimmer einst Süßigkeiten enthielt. Nun liegen Schaumstoffbuchstaben darin. Schleising arrangiert daraus ein Muster: „Guck, das ist das Corps de ballet in ,Schwanensee‘“.
Und die am Schwan hängenden Perlen, die wie erblasste Johannisbeeren aussehen und eine Miniaturbrosche tragen? „Das ist Dornröschen.“ Hm? „Bei mir hängt alles mit allem zusammen“, erklärt Schleising. Schon auf dem Weg zum Atelierhaus sind solche 3-D-Sammelsurien zu sehen, in den Fenstern der Kunsthalle Gröpelingen, dem ehemaligen „C & A Klein“-Modehaus. Kinder haben daran „mit Stoff, Leinwand, Farbe, Ton, Papier, Pappe, Holz, Gips, Fundstücken und Styropor zusammen mit Mut, Ernst und Neugier“ gearbeitet, wie der Verein Kultur vor Ort mitteilt. Findet Schleising Vorhaltungen beleidigend, dass sie mit kindlicher Fantasie etwas fabriziere, was auch im Kindergarten gefertigt wird? „Im Gegenteil, das finde ich toll.“ Ihre skizzenhaft provisorische Kunst liegt im Trend. Befreit vom Zwang, ewig gültige Meisterwerke zu schaffen, wird gesuchter, gesammelter, gefundener Krimskrams kombiniert, auf dass neue Bedeutung entstehe.
Auch bei Schleising ist es ein Vergnügen, Bezüge in die Arrangements hineinzudenken. Vieles wirkt beliebig, ist aber immer amüsant. Sie hat Spaß an Kunst. Am Spielen mit Kunst. Sie könnte wohl auch mit fünf Fusseln, zwei Brötchenkrümeln und einem Sandkorn eine Choreografie zaubern. Eine wahre Schelmin.
„Forever young – Gertrud Schleising bittet Gerhard Marcks zum Tanz“: Eröffnung: Sonntag, 22. November; bis 29. Januar 2016, Atelierhaus Roter Hahn
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