: Der Parteioffizier
Müntefering hat eine Strategie, der SPD wieder zur Macht zu verhelfen. Der Vorstand folgte nicht, also ging er. Sein Verständnis von Geschlossenheit hat keine Zukunft
Wehklagen allerorten. „Oh Gott, das haben wir nicht gewollt. Hätte uns doch Münte, unser allseits geliebter Vorsitzender, vor der Abstimmung wenigstens einen kleinen Fingerzeig gegeben, was er vorhat, wenigstens eine kleine, verklausulierte Drohung“ – so oder so ähnlich jammerte es aus dem SPD-Parteivorstand. Jetzt müssen die SPD-VorständlerInnen für ihr Votum zugunsten von Andrea Nahles als neue Generalsekretärin büßen. Hatten sie die Mahnung in den Wind geschlagen, die vor Zeiten Wilhelm Busch angesichts des Treibens von Max und Moritz ausstieß: „Aber wehe, wehe, wehe! Wenn ich auf das Ende sehe!!“?
Nein! Münteferings Verzicht auf den Parteivorsitz nach der Niederlage seines Zöglings Wasserhövel war wirklich nicht vorauszusehen. Zu tief hatte sich das Klischee vom allseits bereiten Parteisoldaten im Bewusstsein der Parteivorständler eingegraben. Bereitwillig hatten die führenden Sozialdemokraten eine durchgängige Erfahrung auf ihren Vorsitzenden bezogen: dass Berufspolitiker besonders resistent sind gegenüber narzistischen Kränkungen. Runterschlucken, auf eine günstige Gelegenheit zur Revanche warten.
Oder hat sich Münte plötzlich als Postmoderner geoutet, als Biografienbastler mit mehrfachem politischen Abgang und Neuanfang? Ein später Anhänger der These seines vormaligen Chefs, laut der es ein Leben nach der Partei geben soll? Keineswegs. Müntefering ist und bleibt ein politisches Tier.
Noch immer und trotz mehrfacher negativer Beispiele an der Spitze seiner Partei hängt er an der Vorstellung einer durchgängigen Lebensidentität. Die Arbeiterbewegung, sei sie nun in revolutionärer oder reformistischer Gestalt, ist dahingegangen. Geblieben ist das Ethos, nicht von ihr, sondern für sie zu leben. Müntefering ist ein Kind des katholischen Zweigs dieser Bewegung. Er kann, will und wird sich nicht aus seinem proletarischen Herkunftsmilieu lösen. Und er fühlte sich, Ausdruck seines Identitätsbewusstseins, als Glied einer langen Kette, die bis August Bebel zurückreicht. Seine Parallelisierung des SPD-Parteivorsitzes mit dem Stuhl Petri („nur dieser Job ist noch schöner“) hatte eben auch ihre ernst gemeinte Seite.
Und doch ist Müntefering gegangen und nichts deutet bis jetzt darauf hin, dass sein Rückzug sich nur als taktisches Erpressungsmanöver erweist. Es zeigt sich jetzt, dass Münte kein typischer Organisationskader ist, einer, der nur dafür sorgt, dass es flutscht, loyal, bis er aus den Stiefeln kippt. Der Vorsitzende als oberster Subalterner. Ein Irrtum dies, ganz so wie im Fall Herbert Wehners, der nur als peitschenschwingender Org-Chef angesehen wurde, obwohl er mit dem von ihm betriebenen Eintritt in die große Koalition von 1966 ein dezidiert politisches Ziel verfolgte, wie sich drei Jahre später herausstellte.
Müntefering ist der festen Überzeugung, dass nur die große Koalition von 2005 geeignet ist, die SPD wieder an die Macht zu bringen. Dieser erneute Machtgewinn muss von der Regierungsspitze her erfolgen und nicht etwa kraft irgendwelcher Erneuerungsprozesse in der SPD. Die mögen stattfinden, soweit sie zur Effizienz des Regierungshandelns beitragen. Müntefering weiß um die Schwäche der mutmaßlich künftigen Kanzlerin, kennt die Schwachpunkte des Gegners – und die der eigenen Partei. Um die SPD in die Vorhand zu bringen, muss sie ohne Reibungsverluste dem beschlossenen Koalitionskurs folgen. Kein Wunder, dass er den 1999 speziell für ihn geschaffenen Posten des Generalsekretärs wieder abschaffen wollte. Der Geschäftsführer ist abhängig von der Führung, der Generalsekretär hat ein Mandat der Partei.
Hier stoßen wir tatsächlich auf den Beginn eines Antagonismus zwischen Müntefering und großen Teilen des Funktionärskörpers wie der Mitglieder der Partei. Das SPD-Volk hatte den Wahlkampf 2005 als ein Versprechen begriffen, zu den Wurzeln zurückzukehren. Unsinnigerweise hat es Schröders jäh wiedererwachtes soziales Gewissen für bare Münze genommen. Diese durch das Wahlergebnis bestätigte Rückbesinnung war eigentlich auf die künftige Oppositionsrolle zugeschnitten. Hier hoffte man auf einen ruhigen Aufenthalt in der Regenerationsklinik – und auf das rasche Ende der linken Konkurrenz, deren Anhängerschaft dann wieder den Weg zur einzig legitimen Mutter finden würde. Daraus wird nun nichts.
Um so wichtiger die Frage nach der künftigen Rolle der Partei. Eine Reihe derer, die bei der Abstimmung für Andrea Nahles votierten, tat dies nicht wegen der politischen Auffassungen der Kandidatin. Das belegen Äußerungen noch in der Katastrophennacht. Es geht ihnen um ein „sowohl als auch“. Sie wollen die SPD in der Koalition stärken als auch das im Wahlkampf neu gewonnene soziale Profil der Partei schärfen. Die Generalsekretärin solle kraft ihrer Funktion die Forderungen der Partei gegenüber der Regierung einschließlich der SPD-Minister einbringen, als auch ungebärdige Linke in die Parteidisziplin einbinden, sie „integrieren“. Gerade für diese Aufgabe habe sich Andrea Nahles qualifiziert.
Zugegeben, ein schwieriges Manöver. Denn sein Gelingen würde voraussetzen, dass in der SPD die niedergetretene Pflanze der Streitkultur wieder aufblüht. Politische Projekte bedürfen dieses parteiinternen Streits. Die Parteiführung muss ihn ertragen, darf ihn nicht unter Verweis auf das Regierungsgeschäft abwürgen. Die Generalsekretäre sollen gegenüber der Partei das Realitätsprinzip zur Geltung bringen, gegenüber der Regierung aber die Identität der Partei.
Gerade dies ist nach Müntefering ein hoffnungsloses Unterfangen. In der Regierung und gegen die Regierung – das kann und wird nicht funktionieren. In dieser Auffassung Münteferings spiegelt sich nicht nur ein pragmatischer Einwand, hier spricht eine sehr alte Stimme: die der autoritären Traditionen in der Sozialdemokratie. Sollen Kommissionen, möglichst weitab dem Entscheidungszentrum, über ihre Projekte brüten. Die SPD muss geschlossen agieren, nur darin liegt ihre Stärke. Bezeichnend die Haltung Müntes gegenüber abweichenden Parteimeinungen, sobald sie in Gefahr waren, etwas zu bewirken. Bezeichnend, wie er das Gewissen von Abgeordneten auf genau eingegrenzte Fälle ethischen Gewissensentscheids beschränken wollte. Müntefering verachtet heute genau so wenig wie Wehner damals Funktionsträger wie Mitglieder seiner Partei, sie sind für ihn keine Manövriermasse, wie für Gerhard Schröder. Aber Funktionäre müssen funktionieren, sonst geht gar nichts.
So gesehen, zeugt Münteferings Rückzug nicht von gekränkter Eitelkeit, sondern von maßloser Enttäuschung über die Uneinsichtigkeit seiner Partei. Er hält sie offenbar in ihrer gegenwärtigen Gestalt für unfähig, seiner strategischen Linie der Rückkehr zur Macht von der Regierungsbank her zu folgen. Aber wird die SPD die Kraft haben, gleichzeitig zu regieren und politisch wie personell eine Alternative auszuarbeiten? Darauf deutet wenig hin. CHRISTIAN SEMLER