Behinderte sind oft knallhart ehrlich: "Du bist zu dick"
Down
von Cigdem Akyol
Seit Jahren schon wiederholen Fremde mir gegenüber die gleiche komische Frage, die lautet: „Wie lebt es sich denn mit einem behinderten Menschen?“ Na, was soll man darauf schon antworten? Behinderte sind auch nicht besser oder schlechter als der gemeine Durchschnittsbürger. Aber eines sind sie schon: Sie sind definitiv ehrlicher.
Irgendwann hatte Deniz sein Sommerfest von der Behindertenwerkstatt. Ich fuhr also morgens verkatert von Köln nach Bochum, um mit ihm dort abzuhängen. Es war die übliche Veranstaltung, hier ein lausige Band, dort ein Stand für Handwerkszeugs aus der Werkstatt, überall Angehörige, die alles ganz toll fanden.
Deniz und ich standen herum, ich biss gerade in eine Currywurst, als ein Mann mit Down-Syndrom mich von der Seite anrempelte. Ach egal, ich futterte weiter, wahrscheinlich hat der Gleichgewichtsstörungen, dachte ich mir. Dann schnappte er mir plötzlich meine Wust weg, ich war irritiert. „Hör auf zu essen, du bist zu dick“, sagte er mir ziemlich laut ins Gesicht. Mir fiel tatsächlich die Kinnlade herunter, mein Bruder stand lachend neben mir.
In meinem Gehirn machte es Ratter-ratter-ratter – darf man zu gemeinen Behinderten eigentlich auch gemein sein? Ratter-ratter-ratter – Muss ich jetzt pädagogisch klug reagieren, weil der Kerl einen Chromosonenfehler hat? Ich musste innerhalb von Sekunden entscheiden, denn immerhin wurde die Wurst kalt. Ich entschied mich zur Gegenwehr: „Selber dick!“, entgegnete ich, und griff nach meinem Essen, dass er mir widerstandslos zurückgab.
An einem anderen Tag holte ich mit Deniz seinen Freund Heinz ab. Auch Heinz hat das Down-Syndrom, allerdings leidet er zudem unter Spastiken, seine Arme und Hände sind verdreht, sodass er starke Hilfestellungen braucht. Wir wollten Basketball spielen, was also immer bedeutet, dass Heinz eigentlich nicht mitmachen konnte, und mein Bruder ihn ärgerte, indem er ihm immer den Ball vors Gesicht hielt. Aber nun, die beiden hatten sich seit Jahren schon so eingerichtet, da würde ich bestimmt keine neuen Regeln einführen.
Also gingen wir mit dem Ball und den Getränken – natürlich muss ich immer alles tragen, weil Deniz in solchen Momenten immer einfällt, behindert zu sein – Heinz abholen. Er machte uns die Tür auf, warf sich in meine Arme, schaute mich an, und sagte mit aller Unschuld: „Du bist alt!“. Ratter-ratter-ratter – darf ich einen behinderten zurück beleidigen? Ratter-ratter-ratter – ja, darf ich. „Selber alt“, sagte ich zu ihm, und wir mussten beide lachen. Später, als eine ältere Frau mit einem sichtlichen Damenbart an uns vorbeiging, zeigten beide mit dem Finger auf sie, und Deniz sagte unüberhörbar: „Guck mal, ein Mann.“
Deswegen ist die Frage, wie es sich mit Behinderten lebt, eigentlich ganz einfach zu beantworten: Es ist lustig, es ist knallhart ehrlich, es ist immer wieder erfrischend. Das „Problem“ sind nicht die Behinderten, das Problem sind die Gesunden, die damit nicht umgehen können. Denn diese machen uns das Leben schwer.
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