: Die Orgel in der Synagoge
KULTURGESCHICHTE Orthodoxie oder Liberalismus? Das ist nicht erst seit heute im Judentum auch eine politische Frage. Die Synagoge Pestalozzistraße bezeugt es
VON ANDREAS HARTMANN
In der Nähe vom Savignyplatz in Charlottenburg befindet sich die Synagoge Pestalozzistraße. Kein irgendwie gearteter Prunk deutet auf ihre Bestimmung hin. Es gibt auch keine Objektschützer, nur wer das Gebäude betritt, muss einen Metalldetektor passieren.
Die Synagoge Pestalozzistraße ist bestimmt nicht das spektakulärste jüdische Gebetshaus der Stadt und erst recht keine Touristenattraktion wie die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. Auch ihr Gebetsraum wirkt eher schlicht und funktional. Dennoch hat die Berliner Journalistin Esther Slevogt nun mit gutem Grund das Buch „Die Synagoge Pestalozzistraße“ verfasst, erschienen in dem auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisierten Berliner Verlag Hentrich & Hentrich.
Eigentlich hätte das Buch passend zur Renovierung der Synagoge erscheinen sollen, erklärt die Autorin. Aber die Renovierung hat sich verschoben, natürlich, wir befinden uns schließlich in Berlin.
Die Synagoge konnte immerhin gerade ihren hundertsten Geburtstag feiern. Doch eigentlich braucht das Buch gar keinen eigenen Anlass, denn Anlass besteht für eine Geschichtsaufarbeitung, wie die Journalistin sie vornimmt, in Deutschland immer.
Denn dieser Ort, der heute so ganz selbstverständlich nur ein Gebetshaus unter vielen in Berlin sein will, hat eine wild bewegte und dramatische Historie, die nur allzu exemplarisch ist für so gut wie alle Synagogen in Deutschland. In betont unaufgeregtem Stil schreibt Esther Slevogt: „Am 9. November 1938 brannte auch diese Synagoge.“
Zugleich aber erzählt sie eine Geschichte, die verdeutlicht, dass die Synagoge Pestalozzistraße doch mehr ist als nur eine Synagoge unter vielen. Sie mündet darin, dass die Form der Liturgie, wie sie in der Pestalozzistraße ausgeübt wird, heute weltweit einmalig ist.
Man muss nicht einmal empfänglich sein für religiöse Riten, um der Geschichte mit Spannung zu folgen: Diese Liturgie für einen Kantor, vierstimmigen Chor und Orgel wurde ursprünglich von Louis Lewandowski im 19. Jahrhundert für die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße entwickelt. Erst nach 1945 wurde sie von der Synagoge Pestalozzistraße übernommen.
Diese Reformation des jüdischen Gottesdienstes, das macht Slevogt deutlich, war damals nicht nur eine kirchliche, sondern vor allem eine politische Entscheidung. Sie sollte ein ausdrückliches Zeichen an die christlichen Deutschen sein, für die zu dieser Zeit Antisemitismus wieder verstärkt Volkssport wurde, wie groß die Bereitschaft der Juden zur Assimilation war. Denn Orgel und Chor, das kannten die deutschen Christen ja aus ihren eigenen Gottesdiensten.
Gefühl der Zugehörigkeit
Schnell wird in Esther Slevogts Buch klar, welcher politische Sprengstoff sich hinter Fragen wie der nach einer bestimmten Ausrichtung eines Gottesdienstes verbergen kann. Ein Großteil der deutschen Juden war damals liberal, die jüdische Orthodoxie war deutlich in der Minderheit. Die meisten Juden fühlten sich deutsch. Sie waren sogar voller Stolz dazu bereit, für das deutsche Volk und Vaterland in den Krieg zu ziehen und eben auch den Gottesdienst „einzudeutschen.“
Ausgerechnet bei der Synagoge Pestalozzistraße, die heute in Berlin als eine der wenigen liberal ausgerichteten Synagogen neben den orthodoxen, reformierten, aschkenasischen und sefardischen Synagogen gilt, wollte man sich zur Zeit ihrer Erbauung dem Anpassungsdruck widersetzen. Bis zu ihrer Schändung in der sogenannten Reichskristallnacht 1938 war sie eine orthodoxe Synagoge.
Seit ihrer Erbauung 1912 steckte die kleine Synagoge in Charlottenburg immer mittendrin im Geschehen. In der Weimarer Republik wurde die Synagoge zu einem Zentrum der nationalreligiösen Zionisten, um nach der Machtergreifung Hitlers und aufgrund zunehmender Repressionen gegen die Juden in Deutschland immer mehr zu einer sozialen Hilfsstätte zu werden. Sie unterhielt eine Suppenküche, eine Wärmestube, eine Kleiderkammer und einen Kartoffelkeller. 1942 wurde die Synagoge endgültig geschlossen, die Zäsur war total.
Nach dem Krieg kamen die Fragen danach, ob es überhaupt jemals wieder jüdisches Leben in Deutschland geben könne, auch in der Pestalozzistraße an, wo jedoch recht schnell die Synagoge wiederhergerichtet wurde, die bald zur, so Slevogt, „repräsentativen Synagoge der jüdischen Gemeinde“ in Westberlin wurde. Hier betete auch der liberal ausgerichtete Heinz Galinski, der erster Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland werden sollte.
Wieder wurden vermeintliche religiöse Details zu Fragen mit politischer Brisanz. Der Gottesdienst des liberalen deutschen Judentums wurde wieder in der Pestalozzistraße eingeführt, was damals bestimmt nicht jeder verstehen konnte. Es gab sogar die Diskussion, ob er auf Deutsch abzuhalten wäre. Doch Heinz Galinski selbst erklärte, dass Deutsch nicht mehr die Sprache Goethes und Schillers sei, sondern „auch die von Hitler, Göring und Himmler“, die Sprache der Täter. Heute wird auch die Liturgie in der liberalen Synagoge Pestalozzistraße auf Hebräisch abgehalten.
■ Esther Slevogt: „Die Synagoge Pestalozzistraße“. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin. 150 Seiten, 38 Abbildungen, mit MP3-CD