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Archiv-Artikel

Die neue Schnitzeljagd

KONSUM Es gibt noch mehr als unbarmherzige Fleischfresser und militante Vegetarier: Eine wachsende Gruppe von Menschen isst gern und bewusst gutes, teures Fleisch – aber nur wenig davon. Ist das der Anfang vom Ende der industriellen Tierhaltung?

Die Grüne Woche

■ 400.000 Besucher erwarten die Organisatoren der 78. Internationalen Grünen Woche vom gestrigen Freitag an bis 27. Januar auf dem Messegelände. Um sich zwischen 1.630 Ausstellern aus 67 Ländern nicht zu verlieren, können Gäste einer von zehn Routen über das Gelände folgen, etwa der 3,8 Kilometer langen „Deutschlandtour“, die auch zu den Ständen der Berliner Fleischerinnung in Halle 22a führt. 13 Euro kostet eine Tageskarte.

■ Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war schon zur Eröffnung da und sagte: „Die Menschen in Deutschland achten zunehmend auf Qualität.“ Na also. (sepu)

VON SEBASTIAN PUSCHNER UND DMITRIJ KAPITELMAN

Zwölf Flaschen Pinot Grigio mit Biosiegel stehen auf der Theke, genau über den Wiener Würstchen. Dahinter schneidet Michael Kluge gerade Rindfleisch in kleine Stücke, als sich die gläserne Ladentür seiner Fleischerei öffnet. Herein kommt eine Frau, bittet um eine dünne Scheibe Rinderfilet, bezahlt 9,42 Euro und verabschiedet sich lächelnd.

Fast 20 Kunden betreten an diesem Dienstagvormittag zwischen halb zehn und zehn Uhr Kluges Geschäft am Rüdesheimer Platz in Wilmersdorf. Filet für den einen, Aufschnitt für den anderen – aber keiner lässt hier mehr als 10 Euro. „Die Leute in der Gegend haben Geld, aber sie schmeißen es nicht zum Fenster raus“, sagt Fleischer Kluge. „Und sie wollen dafür gute Ware.“ Die hat er: Kluge verkauft Neuland-Fleisch aus artgerechter Haltung, zertifiziert vom Deutschen Tierschutzbund, transparent von der Zucht bis zur Theke. Deshalb hat er in Wilmersdorf vor zwei Jahren eine Filiale eröffnet.

Berlin hat ein gespaltenes Verhältnis zu Fleisch und Wurst: Es gibt billigen Döner und fettige Currywurst, Umfragen zufolge aber zugleich 300.000 Vegetarier. Fleischfans und -hasser vertreten ihr Anliegen mit Verve: An der Freien Universität kämpft eine Initiative um den Einzug ins Studierendenparlament, deren einziges Anliegen der Protest gegen eine vegetarische Mensa ist. Und bei Fleischer Kluge haben sie neulich wieder die Scheiben eingeschmissen und Veganeraufkleber hinterlassen.

Doch nun verlässt eine Gruppe von Menschen ihre Nische, die von beiden Extremen nichts wissen will. Die an einen goldenen Mittelweg glaubt zwischen Völlerei und Verzicht: an reflektierten Fleischkonsum.

Sie kaufen wenig und dafür teures Fleisch in Handwerksbetrieben und Biosupermärkten. Sie stürmen die mehr und origineller werdenden Fleischrestaurants. Viele warten mit Speisekarten auf, die ein Versprechen sein sollen: „100 Prozent echtes Rindfleisch“ steht dort, „Steaks allerhöchster Qualität“ oder: „Die besten Burger der Stadt.“

Für diese Menschen ist Fleisch nicht mehr nur ein Nahrungsmittel. Sondern ein Kulturgut, das es wertzuschätzen gilt.

Bauern verpassen Chance

„Manchmal braucht die Gesellschaft eine Avantgarde, um von ihrem verantwortungslosen Verhalten wegzukommen“, sagt Rupert Ebner dazu. Er arbeitet für den Verein Slow Food, der für Nachhaltigkeit in Tierhaltung und Ernährung kämpft. Die steigende Nachfrage der Städter nach solchen Produkten werde auch festgefahrene Strukturen auf dem Land verändern, sagt Ebner. „Viele Bauern haben noch nicht verstanden, dass ihr Angebot an gutem Fleisch verschwindend gering ist – im Vergleich zur riesigen Nachfrage.“

Nur was ist mit Menschen, die sich eine Scheibe Rinderfilet für 9,42 Euro nicht leisten können? Alles eine Frage des Bewusstseins, glaubt Ebner. Wer sich mit Nahrungsmitteln und ihrer Zubereitung auskenne, wisse: Es muss nicht immer Filet sein. „Zunge oder Niere sind genauso köstlich. Aber viel billiger.“

Mehr Bewusstsein will der gerade von Umweltverband BUND, Böll-Stiftung und Le Monde diplomatique veröffentlichte Fleischatlas schaffen: Bewohner der Industrieländer essen demnach weiterhin Fleisch in rauen Mengen. Rund 60 Kilo pro Jahr und Kopf sind es in Deutschland. Die industrielle Produktion quält Tiere, pumpt sie mit Antibiotika voll und versursacht damit Resistenzen bei Menschen. Der riesige Bedarf an Tierfutter sorgt für Überdüngung, voluminösen CO2-Ausstoß und raubt der südlichen Hemisphäre Ackerland für den Anbau von Nahrung. All das lässt nur einen Schluss zu: Die Welt muss weniger Fleisch essen. Menschen müssen verzichten.

Derlei Überlegungen waren weit weg, als Michael Kluges Eltern 1959 eine Fleischerei in Neukölln eröffneten. Das Geschäft war bald voll mit Arbeitern, die von der Schicht Hunger mitbrachten. „Damals kauften die Leute bei uns, weil sie satt werden mussten“, sagt Kluge. Doch die Arbeiter wurden weniger, es eröffneten Supermärkte und Discounter. Als Kluge das Geschäft 1986 übernahm, standen ungewisse Zeiten bevor. Sein Steuerberater riet: „Du musst auf Neuland umsteigen.“ Genau das tat Kluge 1990. Es war seine Rettung. Und während allein zwischen 2003 und 2011 die Zahl der Fleischer in Berlin um ein Drittel sank, expandierte Kluge. Heute ist er eines der nur noch 30 Mitglieder der Berliner Fleischer-Innung.

Kein Wunder, dass es bisweilen sehr schwierig ist, einen richtigen Fleischer zu finden. „Das ärgert mich“, sagt Dominik Stiefermann, 31 Jahre, Online-Marketing-Manager in Prenzlauer Berg und vor allem: Fleischliebhaber. Stiefermann, Dreitagebart, schlank, betreibt den Blog „Mettsalat“, Untertitel: „Fleisch ist mein Salat.“ Dort stehen Backanleitungen für Plätzchen aus Hackfleisch, Tipps für Diäten ohne Fleischverzicht und Tests der Fleischgerichte in Restaurants. Die Seite hat bei Facebook fast 3.000 Freunde und verzeichnet laut Stiefermann pro Monat 60.000 Besuche. „Es ist ein spitzes Thema, das zieht“, sagt er.

Um über das spitze Thema zu sprechen, hat er ein Lokal in der Schönhauser Allee vorgeschlagen. Es heißt „Fleischerei“ und sähe mit den blau-gelb gekachelten Wänden noch wie eine solche aus, wären da nicht das Mobiliar aus Holz und die dezente Popmusik im Hintergrund. Auf der Karte stehen auch vegetarische Maultaschen, aber auf den Tellern der Gäste liegt zur Mittagszeit etwas anderes: Bayrischer Leberkäse, Berliner Buletten, Schnitzel Wiener Art. Stiefermann bestellt Gulasch.

40 Euro für ein Steak

Ob er weiß, woher das Fleisch stammt? Nein. Aber er weiß, dass es schmeckt. Stiefermann sind Biosiegel egal, er verlässt sich auf seinen Geschmack und den Preis: „Für ein gutes Steak gebe ich gern 40 Euro aus.“ Natürlich wisse er, dass ihn sein Einkommen privilegiere. „Irgendwann waren halt die Tiefkühlpizzazeiten als Student vorbei, und ich habe mir von meiner Mutter Rezepte zeigen lassen“, sagt er.

Muss sich einer wie Dominik Stiefermann mit Massentierhaltung, Schäden des Ökosystems und Hungerkatastrophen als Folge industrieller Fleischproduktion beschäftigen?

„Puh.“ Stiefermann schweigt. Jedenfalls, sagt er dann, sei da ein Kreislauf ins Ungleichgewicht geraten, weil einige es übertrieben hätten. Aber in seinem Blog gehe es um Klasse, nicht Masse. Die meisten kämen auf die Seite, weil sie dort ein Rezept für ein Rumpsteak finden, wie sie es zuvor im Restaurant gegessen haben. „Selbst in der Küche zu stehen, schafft ein viel bewussteres Verhältnis zum Essen.“ Ein Verhältnis, das der verantwortungsvollen Avantgarde des Slow-Food-Aktivisten Ebner nahekommt. Aber kann aus den Vorlieben wohlsituierter Genussmenschen eine gesellschaftliche Entwicklung werden?

Was ist mit den Massen?

Nein, sagt Jana Rückert-John. Die Ernährungssoziologin untersucht an der TU Berlin Perspektiven der nachhaltigen Erzeugung und des bewussten Konsums von Essen. Sie hat zum Essalltag von morgen geforscht und sagt: „Es mag einen Trend zu bewussterem Fleischkonsum geben. Aber der ist marginal.“

Dominik Stiefermann und die Kunden von Fleischer Kluge werden die Verhältnisse auf dem Fleischmarkt nicht allein verändern. Sie seien zwar auf dem richtigen Weg, weil sie reelle Preise für Fleisch bezahlen. „Aber Aufklärung führt noch lange nicht dazu, dass die Massen nur gutes Fleisch konsumieren.“ Nötig sei eine Regulierung des Fleischmarktes: „Wenn der sich ändern soll, muss die Politik dafür sorgen, dass die Preise für jede Art von Fleisch steigen.“ Damit würde es nicht „teurer“, sondern werde lediglich zu seinem tatsächlichen Preis verkauft.

Bei Fleischer Kluge ist das schon Realität, und bei ihm kaufen nicht nur Kiezkunden. Im Produktionstrakt seines Neuköllner Geschäfts steht eine Burgerstraße, 25.000 Euro teuer und erst ein Jahr alt: die Maschine formt Hack zu dünnen, runden Scheiben. Kluge nimmt sie vom Förderband und schichtet sie in einer Kiste. Die 900 Neuland-Burger muss er gleich zur Modemesse Bread and Butter bringen.