Schicksale: Der letzte Arbeitslose

Neues aus der Parallelgesellschaft: zu Besuch bei einem Opfer der Regierung Merkel.

Der Leidtragende ist der namenlose Arbeitslose : ap

Es dämmert bereits, als wir in Würzburg-Heidingsfeld ankommen. Hin und wieder rattert uns eine Straßenbahn entgegen; darin Menschen mit lachenden Gesichtern. Im Hintergrund das Grollen des Autobahnzubringers. Auch daran hat man also nicht gespart. Und hier, zwischen bemoosten Schindeldächern und der graumelierten Mietshausartistik der Siebzigerjahre, soll er leben, einer der Wenigen, einer der Letzten - der letzte Arbeitslose vielleicht? Als wir sie endlich gefunden haben, die Lehmgruben-Siedlung, lässt ein Schild am Straßenrand wissen: "Würzburg macht Spaß!"

"Wie mans nimmt", pariert Lorenz Schmieder, der uns eilig durch den schmucklosen Hauseingang in seine Zweizimmerwohnung im Kolonieweg führt. Immerhin kenne ihn hier niemand. Und: "Bitte keine Fotos!" Unsere Digicam interessiert ihn allerdings sehr. "Kann ich mal?" Wie ein Kind fingert er am Display herum. "Schaut mal, da seid ihr drauf", gluckst er. Wir nehmen Platz auf einer beigefarbenen Couch, die schon bessere Tage gesehen haben dürfte. Sie knarzt ein wenig.

Stempelgeld - Schmieder kommt gleich zur Sache. Damals, unter Helmut Schmidt, habe er sein goldenes Zeitalter erlebt. "Was Arbeitslosigkeit bedeutet, das wusste man bis dahin doch gar nicht." Denn Adenauer, Erhard und die ganze Wirtschaftswunderbande, "die hinterließen Spuren der Verwüstung. Weg war die Erinnerung an die Weimarer Republik. Aber dann fegte Schmidt-Schnauze übers Land, und die Sache war geritzt." Nein, von Schlagworten wie der sozialen Hängematte wolle er heute wie schon vor 30 Jahren nichts hören. "Ich bitte Sie, die ist doch nicht vom Himmel gefallen!" Hart habe man daran gearbeitet, sorgsam Knoten um Knoten geflochten, hier eine Lücke geschlossen und dort ein Loch geflickt. Das war Gemeinschaft, weitab vom Ein-Euro-Job unserer Tage. "Schmidt machte Epoche." Doch auch unter Kohl habe die Branche geboomt. "Vom Erlebnis dieser geistig-moralischen Wende hätte sich manch ein Sozi eine Scheibe abschneiden können. Was glauben Sie, warum der immer wieder gewählt wurde?" Versonnen blickt er auf die Digicam.

Auch die andere Wende sei gerade recht gekommen. "Überall machte man es sich gemütlich, die Renten waren sicher, und selbst die Pflegeversicherung schien sich zu stabilisieren. Wir dachten schon, das ist das Ende. Dann fiel Gott sei Dank die Mauer. Da konnte selbst der Blüm nur noch blöd gucken." Mit Wehmut reicht uns Schmieder ein Foto, das ihn auf dem Würzburger Residenzplatz zeigt, Arm in Arm mit einer Arbeitslosendelegation aus Sonneberg. "Und das kurz nach der Öffnung!" Beeindruckt rucken wir hin und her. Eine Sprungfeder lässt uns keine Ruhe. "Der Kohl hat das bis ins Detail geplant."

Allerdings habe die Schwemme aus dem ehemaligen Osten auch einige Probleme mit sich gebracht. "Begrüßungsgeld kassieren, aber von Bemessungsgrundlagen keine Ahnung. Den Kommunismus noch im Blut, aber gleich in Schwarzarbeit machen - so gehts ja nicht." Ein neues Bewusstsein musste geschaffen werden, und das sei keineswegs leicht gewesen. "Aber man wuchs zusammen." Solidarität eben. Mit Kohl sei jedoch der letzte Garant des sozialen Zusammenhalts im Finster der Geschichte versunken. "Was darauf folgte, war von Übel."

Nein, gemocht habe den Gerster keiner. "Sankt Florian", ätzt Schmieder. Doch immerhin versprach die Umwandlung der Arbeitsämter in Agenturen eine langfristige Sicherung der Existenz. "Sie glauben gar nicht, wie froh meine Sachbearbeiterin war, hin und wieder einen von uns zu sehen." Schauerlich fand er dagegen die Sache mit der Kundennummer. "Einmal davon abgesehen, dass ich kein Kunde bin - geht man so mit Kunden um?" Vorladungen ohne Ende und die Unmöglichkeit, seine Sachbearbeiterin telefonisch zu erreichen. "Keine Durchwahl, nirgends." Schmieder spielt nun am Zoom der Digicam herum.

"Dabei ist Hartz IV gar nicht das Problem. Das trennt die Spreu vom Weizen. Aber dass man uns unserer Grundlage beraubt, das ist die Schweinerei." Denn eines sei doch klar: "Immer mehr Arbeit führt zwangsläufig zum Ende von Arbeitslosigkeit. Wie soll man da weiter existieren? Wo bleibt die Dialektik von Soll und Haben?" Und dann diese Merkel, diese hamsterbackige Schülerin eines geistlosen Registrierkassen-Kapitalismus. "Erst den Kohl hinterrücks demontieren, und dann? Was weiß die denn von sozialer Marktwirtschaft?" O ja, erreicht habe sie viel. Denn inzwischen könne er sich nur noch bei Dunkelheit auf die Straße wagen. "Da ist er", habe man ihm neulich hinterhergerufen, "der letzte Arbeitslose!". Und das, obwohl ihn niemand hier kenne. Stigmatisiert sei er, wehrloses Opfer einer enthemmten Politik. Fehle nur noch, dass Steine flögen. "Kauft nicht bei Arbeitslosen!", stand schon mit Kreide geschrieben auf seiner Wohnungstür. Darunter: "20*C+M+B*07". Eine fiese Nummer! Wir sind froh, als wir uns erheben dürfen.

"Schaut mal, da seid ihr drauf." Schmieder hält uns ein letztes Mal das Display der Digicam vor Augen. Wir verabschieden uns. Es ist dunkel geworden, dunkel und kalt. Starr lächelt es aus den blauen Fenstern der Straßenbahnen. Nachtfrost befällt die Schindeldächer. Auf der Straße rottet sich eine Jugendgang zusammen. Und fernher, aus Oggersheim, grollt der Steinerne Gast. Nur schnell auf die Autobahn!

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