die wahrheit: Unterwegs im Gedächtnis

Als ich seiner das erste Mal im Lesesaal der Bibliothek gewahr wurde, wirkte Newerding hochkonzentriert, zugleich verheerend nervös...

Als ich seiner das erste Mal im Lesesaal der Bibliothek gewahr wurde, wirkte Newerding hochkonzentriert, zugleich verheerend nervös. Wärs treffender zu sagen, er habe den Eindruck erweckt, vollkommen in sich gekehrt zu sein und gleichzeitig desaströs fahrig? Wie dem auch sei, er war der Einzige, der kein Notebook dabei hatte. Auf dem Tischchen lag ein einziges, ein aufgeschlagenes Taschenbuch, mehrere bekritzelte Bogen Papier und eine Batterie Notizbücher.

Als ich ihm das nächste Mal begegnete, sprach ich ihn mit ortsüblich gedämpfter Stimme an, einfach nur so, stellte mich vor und erfuhr seinen Namen. Bald schien es, als habe Newerding insgeheim ein Bedürfnis. Was die Bibliothek angehe, meinte er, sei es leider so, dass er ein ganz unsystematischer Arbeiter sei. Was Sie nicht sagen!, hätte ich Halbblutsarkastiker mit Blick auf die Utensilien beinahe erwidert, stattdessen verabschiedete ich mich kurz darauf.

Als ich Newerding das vorletzte Mal begegnete, beichtete er über kurz oder lang, das Nachsehen in Büchern und lexikalischen Werken enerviere ihn vollkommen, nehme ihm jede Unbefangenheit. Ich unterdrückte die Frage, ob sein Aufenthalt in einer Bibliothek als gleichsam dialektisches Phänomen gedeutet werden könne. Das Zitat spiele, fuhr er fort, in all seinen Arbeiten eine große Rolle. Es seien immer wieder paraphrasierte Zitate oder auch Zitate, die er gern niederschreibe, die er aber niemals als solche kennzeichne. Die hole er sich aus seinem Gedächtnis, er habe das, was man freundlicherweise ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis nenne. Er sei imstande, Prosastellen, ja ganze Absätze zu zitieren. Nur, kürzlich habe ihm beim Durchblättern eines ergrauten Notizbuchs eine Bemerkung gefallen, deren Ursprung nicht zu ergründen sei, nicht, ob sie von ihm stamme oder ob es ein Zitat sei. Schockartig habe es ihn enerviert. Meine vage Neugier wucherte nicht noch musste sie gezähmt werden, vielmehr rauschte ich mit einem "Adios, compagnero" von dannen.

Als ich Newerding das letzte Mal begegnete, dauerte er mich und es dauerte nicht lange, bis er jene Notiz vortrug, der Lautstärke wegen hatten wir uns in das Café begeben. "Wenn ich wüsste, wo Gott wohnt, würde ich eines Nachts nachkucken gehn, ob bei ihm noch Licht brennt. Wenn nicht, bringt er vielleicht gerade den Müll runter. Einer muss es ja machen." Anerkennende Worte keineswegs sparend, notierte ich die Sätze, denn ich möchte ein systematischer Arbeiter sein und verfüge über ein ungewöhnlich schlechtes Gedächtnis.

Wenn ich ihm das nächste Mal begegne, möchte ich mal was erzählen, nämlich dass ich allein der Atmosphäre, meinethalben: der Aura wegen die Bibliothek besuche, nicht, um Folianten zu studieren, und ich werde offenbaren, dass in all den Jahren, die ich jenseits sogenannter geistiger Tätigkeit geschuftet habe, mein Vokabular - "kaum zu glauben!" - auf einen letzten, kümmerlichen Rest zusammengeschrumpft sei, aber ich mit diesem Rest versuche rauszuhauen, was nur drin sei. Dann ist es Newerding vorbehalten, mich aufzuklären, ob es eine Paraphrase ist oder was immer. Einer muss es ja machen.

Falls ich ihm ein nächstes Mal begegne.

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kari

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