Sterbehilfe-Prozess: Der Schmerz

Barbara S. pflegte ihre schwerkranke Schwiegermutter bis zu deren Tod. Jetzt wird ihr vorgeworfen, die alte Dame mit Schmerzmitteln umgebracht zu haben.

Das eigene Leben mit Schmerzmitteln beenden - der Wunsch vieler Patienten. Bild: dpa

BERLIN taz Der Schmerz ist eine sehr komplexe Sinnesempfindung. Er kann akut sein oder chronisch. Man kann ihn spüren, beobachten, analysieren, loswerden oder ertragen. Jeder Mensch macht seine eigenen Erfahrungen. Vielleicht deshalb und weil das Schmerzempfinden so elementar ist wie Essen und Trinken, haben bisher 85.000 Besucher die Ausstellung in Berlin gesehen, die den Titel "Schmerz" trägt.

Tramadol ist ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel und unterliegt als eines von wenigen Opioiden nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Es hat eine ähnliche, wenngleich schwächere Wirkung wie Morphin und kann abhängig machen. Tramadol kann in Tablettenform, als Kapseln, Dragees, Zäpfchen und Tropfen verabreicht oder injiziert werden. In Deutschland gibt es etwa 90 verschiedene Tramadol-Produkte. Die Dosierung beträgt bei normalgewichtigen Menschen 1,0 bis 1,5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Die tägliche Dosis sollte 400 Milligramm nicht überschreiten. Menschen mit Herzleiden können auch bei einer geringeren Dosis ins Koma fallen. WAHN

Barbara S. hat sich die Ausstellung im Hamburger Bahnhof und im Medizinhistorischen Museum der Charité, die den Schmerz in Kreuzigungsgemälden, präparierten Gichthänden oder Videoinstallationen mit Trauernden thematisiert, nicht angesehen. Auch nicht die "Ansichten des Schmerzes", einen Bereich, in dem der Schmerz des anderen dargestellt wird. Dabei kennt ihn Barbara S. besser, als ihr lieb sein kann.

Sie weiß, wie schmerzhaft es ist, das Leid anderer ertragen zu müssen. Zweieinhalb Jahre lang pflegt die gelernte Polsterin, die mittlerweile Hausfrau ist, zusammen mit ihrem Mann und unterstützt von Pflegekräften ihre Schwiegermutter Irmgard L. Viele Jahre bevor das Paar die kranke Frau in ihr Haus am östlichen Stadtrand von Berlin nimmt, ist sie an Parkinson erkrankt. Zudem ist sie herzkrank, leidet an Arterienverkalkung, kann kaum essen und trinken. Im April 2005 ist die 82-Jährige nicht mehr imstande, das Bett zu verlassen. Jede Schluckbewegung ist eine Tortur, die 1,64 Meter große Frau wiegt nur noch 41 Kilogramm. Am Steiß hat sich ein großes Druckgeschwür gebildet, das ihr unerträgliche Schmerzen bereitet und im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkt. Selbst die verordneten Schlaf- und Schmerzmittel kann sie nur unter großen Anstrengungen einnehmen. Barbara S. und ihr Mann haben sich darauf verständigt, dass die Schwiegertochter die Medikamente verabreicht, um den Überblick zu behalten.

Am 20. Mai 2005 liegt Irmgard L. tot in ihrem Bett, wo sie ihr Sohn findet. Seit dem 9. Juli dieses Jahres muss sich Barbara S. vor der 29. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr Totschlag vor. Sie soll ihrer Schwiegermutter am Abend des 19. Mai 2005 eine tödliche Dosis eines Schmerzmittels verabreicht haben - um sie zu töten und dadurch von ihren Leiden zu erlösen.

"Es steht Ihnen frei, sich zu äußern", eröffnet die Vorsitzende Richterin den ersten Verhandlungstag. Barbara S. ist 59 Jahre alt und eine zierliche, schick gekleidete Frau. Sie trägt die hellblonden Haare hochgesteckt, eine weiße Jacke zu einer schwarzen Hose, ein breites weißes Uhrarmband zu Perlenohrringen. Ihre Augenringe hat sie überschminkt. Ihre schwarzen flachen Schuhe berühren mit äußerster Vorsicht und nur mit den Spitzen den Boden, gerade so, als habe sie den Boden unter den Füßen verloren. "Ich werde mich äußern", sagt sie leise. Um sie besser zu verstehen, bittet die Richterin sie nach vorne auf einen Stuhl vor ihrem Tisch. "Ich weiß überhaupt nicht, wie ich dazu komme, hier zu sitzen", sagt Barbara S. und tupft sich die Tränen aus den Augen.

Sie erzählt dem Gericht von dem Zustand ihrer Schwiegermutter. "Er wurde zunehmend schlimmer." Das Druckgeschwür habe sich auch im Krankenhaus nicht gebessert, so dass die Hausärztin einen Chirurgen bestellte, um es herauszuschneiden. "Danach wollte sie nur noch sterben." Ihre Schwiegermutter habe zudem darunter gelitten, Angehörigen und Pflegern zur Last zu fallen, die sie regelmäßig im Bett wendeten,den Magen mit der Hand entleerten, das Gebiss herausnahmen. Mehrmals habe ihre Schwiegermutter Ärzten gegenüber gesagt, dass sie sterben wolle.

Die Angeklagte holt tief Luft. "Ich hätte das nie mit meinem Gewissen vereinbaren können." Die Bitte, ihr etwas zu geben, betont sie, habe ihre Schwiegermutter nicht an sie gerichtet. "Damit hätte ich nicht leben können." Barbara S. braucht wieder einige Sekunden, um sich zu sammeln. "Wie kann man auf die Idee kommen, mich anzuklagen?" Seit dem Tod der Schwiegermutter macht sie eine Traumatherapie und nimmt Tabletten. "Damit ich ein bisschen runterkomme", sagt sie.

Es ist das Bestattungsgesetz, das aus der pflegenden Schwiegertochter eine des Totschlags verdächtigte Angeklagte macht. Nachdem die Hausärztin den Leichenschein ausgestellt hat, kommt Irmgard L. in ein Krematorium. Sie soll eingeäschert werden. Dort wird sie einer zweiten Leichenschau unterzogen, ein tägliches Prozedere vor dem Verbrennen von Leichen. Weil bei Irmgard L. mehrere Druckgeschwüre festgestellt werden, wird die Kriminalpolizei gerufen, die wiederum die Staatsanwaltschaft informiert. Druckgeschwüre gehören zu den gravierenden Gesundheitsrisiken pflegebedürftiger Patienten und werden oft als eine Art Gradmesser der Pflegequalität gewertet.

Klaus Vendura, der seit vielen Jahren als Facharzt für Rechtsmedizin am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin arbeitet, führt die von der Staatsanwaltschaft angeordnete Obduktion durch und wird als Zeuge gehört. Er stellt einen "eigentlich guten Pflegezustand" fest und "einen reduzierten Ernährungszustand". Die Druckgeschwüre seien "ganz schmerzhaft und ungemütlich verlaufen", aber nicht die Todesursache. Die Richterin will von ihm wissen, ob man sagen könne, dass Irmgard L. eingeschlafen sei. Seine Antwort: "Man kann schon sagen, dass es so etwas ist, was man einschlafen nennt." Als Todesursache nennt er "den handfesten morphologischen Befund".

Bei der Blutuntersuchung wurde eine sehr hohe Dosis Tramadol gefunden. "Die Konzentration liegt deutlich über dem, woran selbst jüngere Patienten sterben können", erklärt der Arzt. Auf die Frage der Richterin, ob man an einer Überdosis Tramadol sterben könne, erwidert er: "Es wird schon einige Fälle geben." Das Gericht steht vor einer schwierigen Aufgabe. Es muss klären, welche Dosierung die Ärzte verschrieben haben, wie viel die Angehörigen verabreicht haben, wie die Überdosierung zu erklären ist. Unzweifelhaft ist nur, dass die Verstorbene selbst nicht mehr genug Kraft gehabt haben kann, um das Bett zu verlassen und an die Medikamente zu gelangen.

Im Prozess stellt sich heraus, dass Barbara S. mit zwei völlig konträren Auskünften konfrontiert war. Die Hausärztin betont als Zeugin vor Gericht, dass sie stets gesagt habe, "dass ja nicht zu viel Tramadol gegeben wird". Sie hat die Einnahme von zweimal täglich 10 mg verschrieben, wegen des geringen Gewichts der Kranken und ihrer Verdauungsprobleme. Im Laufe ihrer Zeugenvernehmung stellt sich heraus, dass die Ärztin bei einem Hausbesuch eine Packung Tramadol dagelassen hat, die mit 100 Milligramm beschriftet war, also zehn Zehn-Milligramm-Kapseln enthalten sollte, tatsächlich Kapseln mit einer doppelt so hohen Dosierung enthielt. Eine Erklärung dafür hat sie nicht. Verwunderung löst auch ihre Aussage aus, dass die Kapseln "problemlos" zu teilen gewesen seien, um auf die entsprechende Dosierung zu kommen.

"Ohne Ende" könne man Tramadol geben, hört Barbara S. von dem Facharzt für Anästhesie, der ihrer Schwiegermutter das Druckgeschwür herausgeschnitten hat. Dem Gericht gegenüber gibt er an: "Das ist ja Quatsch. Das habe ich bestimmt nicht gesagt." Barbara S. schüttelt still den Kopf. Der Arzt räumt ein, dass er gesagt hat, dass die von der Hausärztin empfohlene Dosis erhöht werden könne. Die Patientin habe sich in einem "fast finalen Zustand" befunden, mit ihrem baldigen Tod sei zu rechnen gewesen. Nach dem Tod von Irmgard L. wurde er von der Polizei vernommen. Danach, so hält ihm die Richterin vor, hat er die Hausärztin angerufen. Er habe "ein kollegiales Gespräch" über die Dosierung führen wollen, sagt er. Als die Richterin ihn nach dem Grund fragt, wirft er die Hände in die Luft. "Ich weiß nicht mehr, warum ich angerufen habe."

Sowohl die Hausärztin als auch der Anästhesist haben sich auf ihre Zeugenaussagen vorbereitet. Die Hausärztin bringt ein Informationsblatt einer Krankenkasse für Tumorpatienten mit. Dem ist zu entnehmen, dass die tägliche Dosierung von Tramadol "zwei bis drei Mal 100 bis 300 Milligramm" nicht überschreiten soll. Der Anästhesist wartet mit dem Schreiben eines Pharmaunternehmens zur Überdosierung von Tramadol auf. Das Gericht macht eine Kopie, der Inhalt wird nicht verlesen.

Für Erhellung sorgt Benno Rießelmann, ein Toxikologe am Landesinstitut für Gerichtliche und Soziale Medizin. Die Richterin ist erleichtert, als der Fachmann in den Zeugenstand tritt. Mit den Worten: "Bevor wir ganz durcheinander geraten mit den Werten", bittet sie ihn um Aufklärung über das Schmerzmittel Tramadol. Rießelmann referiert zwei Stunden lang anschaulich über Tramadol und über die "auffälligen Ergebnisse" der toxikologischen Untersuchung bei Irmgard L.

Im Schenkelvenenblut wurden 10 Milligramm pro Liter gefunden. "Ein auffallend hoher Wert", sagt er. "Das ist im übertherapeutischen Bereich." Zum Vergleich: Bei Einnahme einer therapeutisch wirksamen Dosis, die nicht über 400 Milligramm liegen sollte, werden im Blut Konzentrationen bis 0,8 Milligramm pro Liter ermittelt. Bei normalgewichtigen Menschen, wie Rießelmann betont. Bevor das Gericht nachfragen kann, stellt der Gutachter selbst die entscheidende Frage. "Wie kann man solche Konzentration erzielen?" Seine Antwort: "Wenn täglich 200 Milligramm Tramadol gegeben werden, ist dieser Wert nicht erreichbar. Der hohe Wert ist nur durch eine Extragabe erklärbar."

Auf die Nachfrage der Richterin, ob Tramadol "ohne Ende" zu geben sei, schüttelt er den Kopf. "Endfälle haben wir häufig." Bei einer Überdosierung trete der Tod schleichend ein. Verwundert verfolgt das Gericht auch seiner Ausführung darüber, dass im Beipackzettel von Tramadol nicht vor einer Überdosierung, einem möglichen Herzstillstand oder Atemdepression gewarnt wird, wohl aber in Fachinformationen für Ärzte und der Roten Liste, also dem Arzneimittelverzeichnis.

Einen Tag war Barbara S. in Untersuchungshaft, nachdem die hohen Werte bei ihrer Schwiegermutter festgestellt wurden. Dann kam sie wieder auf freien Fuß. Das Gericht sieht keine Fluchtgefahr. Die regelmäßige Belehrung der Richterin, dass sie notfalls polizeilich vorgeführt wird, wenn sie nicht erscheint, ist überflüssig. Überpünktlich findet sie sich im Landgericht ein, an ihrer Seite ihr Mann. Der kann den Prozess bisher jedoch nicht im Gerichtssaal verfolgen. Bis er am 30. Juli als Zeuge gehört wird, muss er auf dem Gang warten. "Der Prozess ist schlimm", sagt der 64-jährige Rentner. "Sie rennt sogar mit einem Igel mit Husten zum Tierarzt. Für mich ist meine Mutter eines natürlichen Todes gestorben. Sie wollte und konnte nicht mehr."

Am 1. August soll ein Urteil über Barbara S. gefällt werden. Die Ausstellung mit den Ansichten des Schmerzes wird dann noch vier Tage zu sehen sein.

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