Kommentar: Wie Hartz die Republik veränderte

Erstmals wird in Deutschland offen über Armut gesprochen - weil auch der Mittelstand Angst hat, sozial abzurutschen. Die Parteien versuchen, das alte Gefühl von Sicherheit wiederzubeleben.

Die Renaissance des Sozialen in Deutschland begann vor fünf Jahren. Genau genommen nicht erst mit der weihevollen Übergabe des Hartz-Berichts am 16. August, sondern schon mit einer unscheinbaren Meldung vom 4. Februar. Die damalige Bundesanstalt für Arbeit habe ihre Vermittlungszahlen geschönt, hieß es da - wenig erstaunlich für alle, die schon einmal versucht hatten, über das Arbeitsamt an einen neuen Job zu kommen.

Daraufhin wurde die Bundesanstalt zu einer Bundesagentur, es gab Vermittlungsgutscheine, Ich-AGs und Minijobs. So harmlos und teilweise auch lächerlich wirkten diese Neuerungen, Hartz I bis Hartz III genannt, dass die Explosivkraft der folgenden Hartz-IV-Reform zunächst kaum jemandem auffiel. Das Gesetz hatte bereits alle parlamentarischen Hürden genommen, als im Sommer 2004 die ersten zaghaften Montagsdemonstranten auf den Straßen ostdeutscher Städte erschienen.

Was darauf folgte, war nichts weniger als eine Revolution der politischen Kultur in Deutschland. Zum ersten Mal in der Wohlstandsgeschichte der Bundesrepublik nahm sich die Mehrheitsgesellschaft des Themas Armut an. Leben von etwas mehr als 300 Euro im Monat, der Offenbarungseid vor den Bürokraten auf dem Amt: Das alles war für hunderttausende von Sozialhilfeempfängern schon immer tägliche Realität.

Aber die breite Mittelschicht, vom Industriearbeiter bis zum Akademiker, empörte sich erst jetzt darüber - jetzt, da sie selbst von diesem Schicksal bedroht war. Mehr als zwei Drittel der Deutschen verorten sich heute in Umfragen sozialpolitisch als "links", wobei allerdings die Frage ist, ob es jemals anders war. Neu ist, dass sich diese Orientierung auch im Parteienspektrum abbildet: Eine gesamtdeutsche Linkspartei hat sich etabliert, die SPD fordert den Mindestlohn, die Grünen haben das Soziale entdeckt, die CDU ist längst von den Radikalreformen abgerückt, mit denen sich die CSU ohnehin nie anfreunden konnte. Sie alle werden schon wegen der bevorstehenden Wahlkämpfe versuchen, der Mittelschicht das wohlige Sicherheitsgefühl der alten Bundesrepublik zurückzugeben. Die Gefahr dabei ist, dass die wirkliche Armut wieder in Vergessenheit gerät.

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