Kolumne Märchen: Das Ende einer Blutsbrüderschaft

Corinna Stegemann erzählt Märchen. Heute: Lorenz Potter und die junge anonyme Dame.

Vor vielen, vielen Jahren, als Märchen noch die Wahrheit waren, da begab es sich, dass eine junge Dame, die gerne anonym bleiben möchte, weswegen wir sie hier mit dem Tarnnamen Corinna S. belegen, dass diese Dame also zu einem schönen Fest geladen wurde. Unter wolkenlosem Himmel hatte sich eine fröhliche Gesellschaft zusammengefunden, um den Tag zu genießen. Man picknickte, spielte Fangen, lachte, scherzte und herzte einander.

Die Dame, von der hier die Rede ist, hatte sich zum kameradschaftlichen Gespräch mit ihrem allerbesten Freund in den Schatten einer alten Eiche zurückgezogen. Sie kannten einander schon seit frühester Kindheit, hatten Kindergarten, Grundschule, Gymnasium, Liebeskummer und - ach - alle Freude und alles Leid miteinander durchgemacht und geteilt, welche das Leben halt so mit sich bringt. Sogar die Blutsbrüderschaft hatten sie vollzogen, und man darf sagen, dass sie miteinander so vertraut waren, als seien sie als Zwillingspärchen gemeinsam aus dem Mutterschoß gekrochen.

Nun war der schöne Nachmittag vertändelt worden und die muntere Gesellschaft beschloss den Aufbruch. Die Picknickkörbe und Decken wurden zusammengepackt und man verabschiedete sich unter heiterem Gelächter.

"Tschüss Corinna!", rief der Blutsbruder unserer Protagonistin zu, und diese winkte ihm fröhlich zu und entgegnete: "Tschüss, äh " Der allerbeste Freund, der sich schon fast zum Gehen abgewandt hatte, hielt in seiner Bewegung inne und sah Corinna S. halb belustigt und halb erwartungsvoll an, und auch einige andere Gäste waren aufmerksam geworden. Frau S. ihrerseits kramte hektisch in ihrem Gehirn herum, auf der Suche nach dem Namen des vertrauten Freundes. "Das kann doch nicht sein", so dachte sie bei sich, "ich kann doch nicht seinen Namen vergessen haben."

Der Blutsbruder seinerseits war nun nahe an sie herangetreten und der belustigte Ausdruck in seinem Gesicht war einer gewissen Ernsthaftigkeit gewichen, und diese Ernsthaftigkeit lag auch in seiner Stimme, als er fragte: "Du verarscht mich jetzt, oder? Du hast doch nicht wirklich meinen Namen vergessen?"

Corinna S. schwitzte Blut und Wasser, die restliche Gesellschaft hatte sich nun eng um sie und den Vergessenen geschart, und vorwurfsvolle Blicke lasteten schwer auf ihr.

"Kennst du das nicht", versuchte sie die Situation zu retten, "man hat einen Blackout und vergisst schon mal den Namen des allerbesten Freundes? Das kennt doch jeder." Doch der Blutsbruder, der nun wirklich zornig guckte, presste nur ein zischendes "Nein, das kenne ich nicht" zwischen den Lippen hervor und auch die anderen Festgäste schüttelten empört die Köpfe. Corinna S. war klar, dass sie nicht nur ihren allerbesten Freund verloren hatte, sondern von nun an auch gesellschaftlich ruiniert war. Schon bekam sie erste Stöße und Schläge von den Umstehenden, und sie flehte ihren Freund um Erlösung an: "Sag mir, wie du heißt, bitte!" Und der richtete sich zu voller Größe auf und sagte laut, klar und deutlich: "Ich heiße Lorenz Potter."

Aber, ach, die Erlösung blieb aus, bei Corinna S. stellte sich kein Gefühl der Erinnerung ein, sie hatte den Namen Lorenz Potter noch nie im Leben gehört. Die Umstehenden rückten näher

Schweißgebadet und zitternd wachte S. auf - und endlich die Erlösung! Es gab keinen Lorenz Potter, hatte ihn nie gegeben. Sie hatte den nur geträumt, auch war sie gesellschaftlich nicht ruiniert, weil außer ihr ja niemand etwas von diesem Albtraum mitbekommen hatte.

Erleichtert, lachend und kopfschüttelnd warf Corinna S. ihren Computer an - die Neugier trieb sie dazu, im Internet kichernd nach dem Namen "Lorenz Potter" zu suchen. Und - waaaahhh! Sie fand genau 5.537 Einträge, die allesamt besagten, Lorenz Potter habe lange Zeit als der allerbeste Freund von Corinna S. gegolten, bevor diese, nach einem Eklat, gesellschaftlich ruiniert wurde.

Und wenn sie nicht endlich aufgewacht ist, dann träumt sie diesen schlimmen Traum noch heute.

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