Bildung: Wirtschaft entdeckt Chancengleichheit

Stiftungen wollen Jugendlichen aus nichtakademischen Familien den Weg an die Hochschule erleichtern, indem sie Orientierungshilfen geben. Das Programm soll den Fachkräftemangel lindern.

Beratung, damit die Nichtakademikerkinder in den richtigen Hörsaal finden. Bild: dpa

BERLIN taz "Was soll ich bloß studieren?" Diesen Satz hört man von vielen Schülern, die kurz vor dem Abitur stehen. Denn mit den letzten Schuljahren kommen nicht nur die Prüfungen, sondern auch die großen Fragen auf sie zu. So geht es auch Marina Michels, die nicht weiß, was sie studieren will. "Irgendwas mit Meteorologie", sagt die 17-jährige Gymnasiastin aus Köln etwas unsicher.

Die soziale Herkunft der Eltern entscheidet in Deutschland maßgeblich darüber, ob der Nachwuchs studieren wird. Das hat die 18. Sozialerhebung des Studentenwerks im Juni wieder belegt. Danach besuchen 83 Prozent des Akademikernachwuchses eine Hochschule, aber nur 23 Prozent der Kinder aus bildungsfernen Schichten. Die Barriere besteht schon in der Schule: 88 Prozent der Akademikerkinder schaffen den Eintritt in die gymnasiale Oberstufe - dagegen nur 46 Prozent der Nichtakademikerkinder. Für die Sozialerhebung wurden rund 17.000 Studenten befragt. PK

Hilfe bei der Wahl des passenden Studiengangs bekommt Michels jetzt von der deutschen Wirtschaft. Denn die Schülerin entspricht den Anforderungen des neuen Förderprogramms "Studienkompass", in das sie aufgenommen wurde. Michels ist jung, kommt aus einem nichtakademischem Elternhaus und ist bisher orientierungslos.

Der "Studienkompass" ist eine Gemeinschaftsinitiative dreier Wirtschaftsverbände - der Accenture-Stiftung, der Deutsche Bank Stiftung und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft - mit Bildungsministerin Annette Schavan als Schirmherrin. Das Programm richtet sich an Schüler, die zwei Jahre vor dem Abitur stehen und vor der Aufnahme eines Studiums Beratungs- und Orientierungsbedarf haben.

Wichtigste Voraussetzung aber: Die Schüler müssen aus einem bildungsfernen Haushalt stammen. Kinder von Akademikern haben ausnahmsweise keine Chancen. Geworben wurde an Schulen, und insgesamt 175 Schüler wurden in das Programm aufgenommen. Sie sollen bei ihrer Studienorientierung unterstützt und begleitet werden, damit sie sich im Irrgarten der Hochschulen nicht verlaufen. Finanzielle Unterstützung gibt es keine. Die Schüler sollen in Kursen und Workshops ihre Stärken besser kennenlernen und selbstsicherer ihre akademische Laufbahn starten.

Aber natürlich engagieren sich die wirtschaftsnahen Verbände nicht aus reiner Nächstenliebe. "Wir haben keine Rohstoffe in Deutschland, wir haben nur unser Wissen", sagte Stephan Scholtissek von der Accenture-Stiftung bei der Vorstellung der Initiative. Deswegen brauche die Wirtschaft gut ausgebildete Leute aus allen Schichten. "Aber die Zahlen zeigen, dass es mit der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland nicht so weit her ist, wie wir es gerne hätten", kritisiert Scholtissek.

Tatsächlich nehmen hierzulande deutlich weniger junge Menschen aus nichtakademischen Elternhäusern ein Studium auf, als dies im internationalen Durchschnitt der Fall ist. Denn die soziale Herkunft und die Vorbildung der Eltern entscheidet heute immer noch über die maßgebliche Aufnahme eines Studiums.

Als "unerträglichen Zustand" bezeichnet Hans-Jürgen Brackmann, Generalsekretär der Stiftung der Deutschen Wirtschaft, diese Tatsache. "Viel zu viele Jugendliche bleiben hierzulande unter ihren Möglichkeiten", begründet Brackmann die gestern vorgestellte Initiative. "Uns gehen wertvolle Potenziale verloren. Schon heute ist ein Mangel an qualifizierten Fachkräften in vielen Branchen deutlich spürbar."

Eine Aussage, der auch Ulla Burchardt (SPD) zustimmt, die Vorsitzende des Bundestags-Bildungsausschusses. Der "Studienkompass" sei aber ein Minimalprogramm. "Nur 175 Schüler werden gefördert", sagt die SPD-Politikerin, "soll das etwa ein Trostpflaster sein?" Es sei zwar zu begrüßen, dass die deutsche Wirtschaft die Mangelhaftigkeit des Bildungssystems erkenne. "Aber Wohlfahrt und Almosen sind kein Ersatz für Bildungsgerechtigkeit." Die neue Initiative dürfe "nicht als Ersatz für politisches Handeln herhalten".

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