Kolumne "Katastrophen": "Und wer sind Sie?"

Was passiert, wenn man alt ist und allein in der Stadt lebt und Schuhe mit Klettverschluss tragen muss.

Sie stand einfach so da.

Eines Nachmittags im letzten Sommer. In ihrer an den Knien beulig gewordenen Gymnastikhose, den praktischen Turnschuhen mit Klettverschluss und dem ungekämmten Haar.

Sie trug die Art von Kleidung, die man alten Menschen eben anzieht, wenn das An- und Ausziehen zu schwer für sie geworden ist. Vielleicht bin ich deshalb mitgegangen - sie erinnerte mich an meine Oma.

Meine Oma, die tot ist, aber toll war; rauchig lachte und auch irgendwann ihre schicken Pumps gegen Nikes eintauschen musste.

Sie war mir schon aufgefallen, wie sie vor dem Haus stand, eines der wenigen unrenovierten in der Straße.

An diesem Tag sprach sie mich an. "Hilfe", ein dünnes Stimmchen, "Helfen sie mir. Es ist keiner da. Ich bin ganz allein", sagte sie, "und habe den ganzen Tag noch nichts gegessen."

Wenn das so ist, dachte ich, die arme alte Dame, und bot ihr an, ihr etwas zu machen. Ein Brot oder so. Langsam war kein Ausdruck für das Tempo, in dem die kleine gebeugte Frau und ich in ihre Wohnung gelangten. Darin wurde mir klar, was arm sein bedeuten muss. Und allein sein. Es roch ein bisschen streng, aber nicht zu sehr, und sah aus wie in einem Film über die Nachkriegszeit. So, als ob man das Wertvolle bereits versetzt und nur das Allernötigste behalten hatte.

Vorsichtig bewegte ich mich wie in einem seltsamen Traum durch die Wohnung. Sie hieß Frau Ö. und erzählte mir inzwischen wirre Geschichten, es komme immer eine böse Frau, die wolle ihr Sparbuch stehlen und wer ich denn sei?

"Die Nachbarin", wiederholte ich zum zwanzigsten Mal. Da erhellte sich ihr kleines, runzeliges Gesichtchen für einen Augenblick: "Ach, die Nachbarin!"

In der "Stube", wie sie ihr Wohnzimmer nannte, lag auf dem Tisch ein Brettchen und darauf ein Marmeladenbrot, in kleine Häppchen geschnitten. Frau Ö. sah mich verzweifelt an: "Bleiben Sie noch ein bisschen!" Ich holte Gläser und einen Saft und setzte mich ihr gegenüber an den Tisch.

An der Wand hing ein Zettel mit einer Notrufnummer, mit dickem Filzschreiber hingekritzelt. Ich rief an, ein Samariterdienst in der Nähe war dran.

"Ach, Frau Ö.", klang es aus der Leitung, "die ist dement und vergisst sofort, wenn einer von uns da war. Machen sie sich keine Sorgen."

Ich machte mir Sorgen. Frau Ö. saß da, mümmelte an ihrem Marmeladenbrot und fragte: "Und wer sind Sie?"

Ich beschloss, ihr Langzeitgedächtnis zu testen, das stellenweise noch ganz gut zu funktionieren schien: Frau Ö., so erzählte sie mir, wurde 1913 in Forst geboren und kam als junge Frau nach Berlin. "Ich wollte was erleben!", strahlte sie. Doch dann: "Wäre ich bloß zu Hause geblieben - jetzt bin ich ganz allein und keiner fragt sich, was die alte Ö. wohl macht."

In diesem Moment wurde ich unsicher, ob ich mich noch in der Realität befand. Die dunkle Wohnung, die Wohnzimmereinrichtung und der leicht strenge Geruch - es war, als hätte sich ein Zeitfenster aufgetan und ich sähe in die Zukunft.

Sollte ich aus Berlin verschwinden?

Am Ende würde ich dasitzen wie Frau Ö.!

Sie erzählte noch ein bisschen von Wagner. Ich mochte sie und verabschiedete mich mit den Worten, ich käme mal wieder, mit einem Stück Kuchen.

Das ist jetzt über ein Jahr her. Kaum auf der Straße, war ich wieder im Leben. Fühlte die Sommerwärme, die Sonne, hörte die Geräusche der Stadt.

Jeden Tag fahre ich am Haus von Frau Ö. vorbei. Jeden Tag krallt sich das nackte schlechte Gewissen in mich - und jeden Tag halte ich nicht an.

Diesen Sommer stand Frau Ö. nicht mehr vor ihrem Haus.

Ich sah, wie zwei junge Leute in Stonewashed-Jeans ihr Sofa aus dem Stubenfenster hievten. Das Zimmer ist jetzt kahl. Doch im Schlafzimmer ist abends manchmal Licht.

Mal steht eine Blume auf dem Fenstersims, mal ist sie fort.

Frau Ö.?

Ich habe Angst.

Fragen zu Frau Ö.? kolumne@taz.de

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