Debatte Tempolimit: Biotop Autobahn in Gefahr

Kastrationsängste bei den Autofahrern, geistige Höhenflüge bei ADAC-Häutlingen: Das Tempolimit ist wieder da. Und diesmal hat es sogar eine Chance auf Umsetzung.

Das gute alte Tempolimit. Großartig, wie es noch im hohen Alter zu solch einem Aufreger werden konnte. Bisher galt: Tausendmal probiert, tausendmal ist nix passiert. Immer wieder haben sich Umweltkämpfer aller Gattungen beim Abbremsen automobiler Glückgefühle blutige Nasen geholt. Das Tempolimit ist streng betrachtet ein Ladenhüter der Republik und zugleich zuverlässiger Garant für die verkehrspolitische Niederlage, die alle drei, vier Jahre brav erneuert wird. Die gesellschaftliche Restvernunft hat schon fast resigniert, denn die Autolobby schmettert seit den ersten lauen Versuchen von Verkehrsminister Lauritz Lauritzen im Jahr 1973 - die älteren unserer Leser werden sich erinnern - noch jeden Versuch ab, Deutschland in Sachen Tempo an den Rest der Zivilisation anzuschließen und eine langsamere Gangart einzuschlagen, wie sie in ganz Europa üblich ist.

Natürlich geht es beim Kampf um die Entschleunigung immer auch ums Rechthaben und dass sich der grüne Öko-Zirkus nicht auch noch auf der deutschen Autobahn austoben darf. Dort wo "links" bekanntlich nur die Überholspur ist. Diese Autobahn ist eines der letzten Biotope für infantile Regressionen mit Breitreifen, Rammstangen und Four-Wheel-Drive als unvermeidliche Zutaten. An diesen Ort zieht es auch immer wieder Autotouristen, die selbst von Übersee oder China nach Deutschland pilgern, um einmal im Leben mit dem Porsche ganz legal mit 250 Stundenkilometern über den Asphalt zu heizen. Erlebnisurlaub auf der Autobahn mit Nervenkitzel, Duell im Morgengrauen und der Erotik tiefergelegter Ich-Prothesen inklusive.

So ist der Streit ums Tempolimit immer ein hoch emotionaler und zugleich ideologischer Streit. Es geht längst nicht nur darum, ob langsameres Fahren Verkehrssicherheit, Klima, Verbrauch, Lärm, Luftverschmutzung und Verkehrsfluss verbessert. Wer wollte dies bei rationaler Betrachtung ernsthaft bestreiten. Es geht im Kern um das mit erstaunlicher Sturheit verweigerte Bekenntnis einer Gesellschaft zu einer anderen Art von Mobilität: zur Abrüstung in der Tiefgarage und im Bewusstsein, zu einem Ja zu souveräner Gemächlichkeit und Gelassenheit. Oder um es mit ein wenig Pathos zu sagen, es geht um etwas mehr Menschlichkeit im Straßenverkehr, statt ungehemmtem Fahrspaß, statt Sechs-Zylinder-Dynamik und dem ewigen "Schneller, höher, weiter".

Tiefenpsychologisch betrachtet, werden mit dem Tempolimit natürlich alte Kastrationsängste mobilisiert. Der Autofahrer will seine Potenz nicht verlieren beim Kampf um die Pole-Position am Kamener Kreuz, bei der rasenden Penetration des Raumes, bei der Herrschaftsausübung über eineinhalb Tonnen Stahl und Blech, die der Wagenlenker mit einer kleinen Fußbewegung selbst in einem VW-Golf mühelos auf fast 200 Sachen beschleunigen kann. Zudem würde ein Tempolimit auf der Autobahn schlagartig den Irrsinn heutiger Übermotorisierung klarmachen mit gängigen PS-Zahlen, die noch vor 30 Jahren für den Großen Preis von Deutschland ausgereicht hätten. Stell dir vor, du hast 200 Pferdchen unter der Haube, darfst sie aber nie richtig rauslassen. Eine grässliche Vorstellung.

Und dennoch: Seit dem letzten SPD-Parteitag ist das Tempolimit plötzlich wieder da. Wie Kai aus der Kiste. Angeschoben von der neuen Klima-Sensibilität der Deutschen, ist es zugleich zum Vehikel für die Emanzipation einer aufmüpfigen SPD-Basis gegen ihre dröge Parteiführung geworden. Erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit das Parteivolk seinen Arm für Tempo 130 hob. Da mochte Verkehrsminister Tiefensee, ein farbloser und uninspirierter Sachwalter des "Weiter so", noch so angewidert von seinem Podium herunterschauen. Kaum war die Tempodiskussion neu eröffnet, fiel sie zurück in alte Muster. Die politischen Reflexe funktionieren noch. So prophezeien ADAC-Häuptlinge in einschlägigen Talkshows ungestraft den GAU für die Verkehrssicherheit, weil wir alle einschlafen werden hinterm Steuer, wenn wir ohne jeden Adrenalinstoß nur noch 130 fahren.

Ungeachtet solch geistiger Höhenflüge könnte es diesmal beim 1.001. Versuch richtig interessant werden mit der Entschleunigung. Denn das Tempolimit ist jenseits verkehrspolitischer Debatten mitten in die Partei- und Koalitionsarithmetik geraten. Plötzlich gibt es eine deutlich gefühlte Mehrheit im Bundestag pro Tempo 130. Grüne, Linkspartei und SPD könnten tatsächlich für eine Revolution auf der Straße sorgen und das Tempolimit durchwinken. Vermutlich würden in geheimer Abstimmung sogar ein paar Unionsabgeordnete mit Ja votieren. Denn in der Vergangenheit, das wird oft vergessen, haben auch CDU- und CSU-Politiker wie die Herren Schmidbauer oder Werkstetter "aus Gewissensgründen" für ein Tempolimit plädiert.

Nachdem die Grünen sich der Steilvorlage der SPD-Basis sofort bemächtigt und den entsprechenden Antrag im Bundestag eingebracht haben, kommt es zum verkehrspolitischen Schwur. Die SPD steht dabei vor dem Dilemma, dass sie wieder einmal gegen sich selbst stimmen und ihre Parteibasis komplett ignorieren muss, wenn sie den Bruch der großen Koalition vermeiden will. Da werden aber nicht alle mitmachen, zumal einige SPD-Abgeordnete einen eigenen Antrag für Tempo 130 einbringen wollen. Außerdem kann die Fraktionsführung die Abgeordneten schlecht dazu vergattern, gegen den noch frischen Beschluss ihres angeblich so tollen Parteitages zu stimmen, der doch für ein neues Selbstbewusstsein gegenüber der Union stehen soll. Nicht auszudenken, wenn jetzt noch ein paar FDPler, die die Koalition hochgehen lassen wollen, und einige aufrechte Unionsleute fürs Tempolimit stimmen würden.

Und Umweltminister Gabriel? Der kann sein Glück gar nicht fassen und versucht derzeit mit Tempo 200 die Kurve zu kriegen und seine bislang ablehnende Haltung zum Tempolimit zu korrigieren. In der Vergangenheit hatte Gabriel, um unnötigen Niederlagen aus dem Weg zu gehen, das Thema streng gemieden und stets auf wichtigere verkehrspolitische Probleme verwiesen. Jetzt wurde er umweltpolitisch von der eigenen Partei überholt, muss hurtig zurückrudern und verlangt, um sein Gesicht zu wahren, neue Zahlen aus der Wissenschaft. Die hatte zuletzt Mitte der 90er-Jahre die Auswirkungen eines Tempolimits auf Autobahnen untersucht. Natürlich weiß auch Gabriel, dass es wirklich nicht darauf ankommt, ob jetzt 2 oder eher 3 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden, wenn die Raserei gestoppt wird.

Dass sich in neuen Meinungsumfragen auch noch 60 Prozent des Wahlvolks für ein Tempolimit ausgesprochen haben, gibt dem Thema ebenso zusätzlichen Drive wie die neu gegründete "Allianz pro Tempolimit", in der sich Umweltkämpfer und Verkehrswissenschaftler mit Polizeiexperten vereinen. Es wird also nochmal richtig spannend. Unglaublich, unser gutes altes Tempolimit.

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Manfred Kriener, Jahrgang 1953, ist Umweltjournalist und Autor in Berlin. Themenschwerpunkte: Klima, Umwelt, Landwirtschaft sowie Essen & Trinken. Kriener war elf Jahre lang taz-Ökologieredakteur, danach Gründungschefredakteur des Slow-Food-Magazins und des Umweltmagazins zeozwei.. Zuletzt erschienen: "Leckerland ist abgebrannt - Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur". Das Buch schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste und wurde von Umweltministerin Svenja Schulze in der taz vorgestellt. Kriener arbeitet im Journalistenbüro www.textetage.com in Kreuzberg.

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