Kolumne Geschöpfe: Und darüber hinaus!

Im Gegensatz zu Hunden würden wir Menschen am liebsten ewig leben. So wie Muscheln. Oder Sträucher.

Das dümmste Buch, das ich jemals freiwillig bis zur letzten Seite gelesen habe, trägt den ohnehin schon blöden Titel "Fantastic Voyage: Live Long Enough to Live Forever" und handelt allen Ernstes genau davon: wie ich als heute Mittdreißigjähriger leben muss (Sport treiben und grünen Tee trinken!), um lang genug zu leben (etwa 120 Jahre), um noch erleben zu können, wie eine fortgeschrittene Wissenschaft (Nanotechnologie!) es mir ermöglichen wird, bis in alle Ewigkeit zu leben. Oder, wie die Autoren in ihrer Fortschrittsbesoffenheit es formulieren, "to make the journey from this century to the next and beyond". Wow.

Falls ich alle Ratschläge beherzige und es also schaffen werde, im Jahr 2100 noch halbwegs auf den Beinen zu sein, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Und wenn doch noch irgendein tückisches Zipperlein durchschlägt oder mir ein Ziegelstein auf den Kopf fällt? Kein Problem, dann werden einfach alle kognitiven Prozesse, für die bisher der warme, weiche, feuchte und störanfällige Biorechner in meinem Oberstübchen zuständig war, in ein Computerprogramm verwandelt und auf eine externe Festplatte ausgelagert - fertig! Genau das ist es, was die Autoren mit ihrem dahergeraunten " und darüber hinaus" meinen, dass wir nämlich eines Tages alles Körperliche und Hinfällige dadurch überwinden werden, dass wir uns selbst von der Biologie verabschieden und in die Gefilde der Informatik transzendieren. Tod, wo ist dein Stachel? Da wird der grimme Schnitter sicher blöd aus der Wäsche schauen! Und mühsam umschulen müssen, vom Sensenmann zum Computerwurm.

Bei Licht betrachtet aber ist es vielleicht gar keine so gute Idee, dem Tod von der Schippe springen zu wollen. Nicht nur im Licht meiner Badezimmerlampe, sondern auch in dem der Weltöffentlichkeit. Pharao Tutanchamun, der vor mehr als dreieinhalb Jahrtausenden mit 19 Jahren "unsterblich" wurde, ist heute als grinsendes Stück Kohle hinter Plexiglas ausgestellt. Und über die jeweils "ältesten Menschen der Welt" wird immer nur dann berichtet, wenn sie endlich das Zeitliche gesegnet haben.

Bis es also klappt mit der Unsterblichkeit, müssen wir Trost bei nichtmenschlichen Lebewesen suchen, wobei auch hier gilt: je älter, desto dümmer. Coco beispielsweise, der Graupapagei meines Großvaters, kam nie wirklich über die Abdankung von Wilhelm II. hinweg, krächzte ununterbrochen: "Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoss ein Franzos." Wenigstens die Riesenschildkröte Harriet, die ein gewisser Charles Darwin von Galapagos nach London entführte, wo sie 2006 mit 176 Jahren starb, hat sich zeitlebens solche dummen Sprüche verkniffen.

Als absoluter Methusalem gilt neuerdings ein halb verdorrter Strauch, den US-Wissenschaftler in der kalifornischen Wüste zwischen Bergen von alten Kühlschränken und sonstigem Sperrmüll entdeckt haben. Es handelt sich um einen robusten Creosote-Stauch, zu dessen Jugenderinnerungen der sanfte Ausklang der letzten Eiszeit vor 11.000 Jahren zählen dürfte. Mit vermutlich schwindendem Wohlwollen hat diese Pflanze den kompletten Aufstieg einer Spezies verfolgen können, die ihr nun gefährlich nah zu Leibe rückt - das Stadtzentrum von Palm Springs liegt heute nur noch zehn Minuten vom Fundort des greisenhaften Gestrüpps entfernt.

Nun ist vor der Küste Islands das älteste alle Tiere entdeckt worden: eine lebende Venusmuschel, deren Alter anhand ihrer Jahresrippen und -rillen auf 400 Jahre geschätzt wird. 400 Jahre, sinnlos verplempert auf irgendeinem Granitsockel am Meeresboden! Dieser Gedanke (und nicht der an die Unsterblichkeit) war es, bei dem mir irgendwie ganz leicht ums Herz wurde, gestern, vor dem Spiegel, beim Zählen meiner eigenen Jahresrippen und -rillen.

ARNO FRANK

GESCHÖPFE Fragen zum ewigen Leben? kolumne@taz.de MORGEN: Josef Winkler in der ZEITSCHLEIFE

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