Debatte NGO-Krise: Die lästige Basis

Deutsche NGOs befinden sich in einer tiefgreifenden Krise, denn sie suchen den Kontakt zu lokalen Gruppen und Bewegungen nicht mehr. Was tun?

In Deutschland befinden sich Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in einer tief greifenden politischen Krise. Eine Ursache dafür ist ihre mangelnde Fähigkeit, viele Menschen zu mobilisieren.

Zwei Szenen aus der jüngsten Vergangenheit illustrieren das Problem: So mäanderten im Juni diesen Jahres entschlossene Menschenmengen durch blühende Felder vorbei an überforderten Polizisten auf die Zufahrtsstraßen zum Tagungsort Heiligendamm, um dort gegen die als globale Ungerechtigkeit wahrgenommene Politik der G-8-Regierungen zu protestieren. Bei den Demonstranten handelte es sich vor allem um Mitglieder von mehr oder minder radikalen Basisbewegungen, Parteijugendorganisationen ebenso wie es auch viele kaum organisierte Einzelpersonen gab. Vertreter von NGOs fanden sich kaum unter ihnen.

Wenige Wochen zuvor, nämlich im April dieses Jahres, ging am ehemaligen Regierungssitz in Bonn der sogenannte G-8-Dialog mit der Zivilgesellschaft über die Bühne - weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Bei dieser Konferenz, die von der NGO-Plattform "Forum Umwelt & Entwicklung" gemeinsam mit der Bundesregierung ausgerichtet worden war, trafen die G-8-Verhandlungsführer (auch Sherpas genannt) auf ausgewählte Vertreter internationaler NGOs.

Während der Sitzung, in der NGO-Vertreter ihre Anliegen vorbrachten, gab es nur einen einzigen Zwischenruf aus dem handverlesenen Publikum. Als der russische Sherpa ankündigte, Russland werde zum Wohle des Klimas 26 neue Atomkraftwerke bauen lassen, rief ein russischer Aktivist: "Erinnert euch an Tschernobyl!" Ansonsten gab es lediglich kritische Mahnungen von NGO-Seite am G-8-Programm, und am Ende ging man zufrieden auseinander.

Angesichts von Klimakatastrophe und der neuen Dynamik sozialer Spannungen im Kontext des Aufstiegs der Schwellenländer, bleibt unklar wie NGOs eine soziale und ökologische Transformation tatsächlich politisch durchsetzen wollen. Denn derzeit klaffen Analyse und politische Praxis weit auseinander: Während die Gäste aus dem Süden beim Alternativgipfel in Rostock betonten, dass dies nur mit Druck von Basisbewegungen machbar sei, verließen sich die hiesigen NGOs im Wesentlichen darauf, mit der G 8 und der Bundesregierung ins Gespräch zu kommen oder zu bleiben.

Keine Frage: Die Vermittlung von alternativer Expertise in die politischen Institutionen ist wichtig. Aber diese Arbeit ist nur gesellschaftlich wirksam, sofern NGOs imstande sind, ein politisches Kraftfeld aufzubauen. Ohne eine breite Basis von Aktiven ist dies jedoch kaum denkbar. Trotzdem sehen viele NGOs Bewegungen und lokale Gruppen häufig nur als Quelle für Spenden an, also als so notwendiges wie lästiges Übel. Für die wenigstens sind sie Inspirationsquelle oder gar zentraler Rückhalt.

Nicht zuletzt aus diesem Grund befinden sich die deutschen NGOs in einer Situation des strategischen Stillstands, und das obwohl sie einen relativ jungen Organisationstyp darstellen.

Während der ersten Hälfte der 90er-Jahre - insbesondere katalysiert durch die Debatten um den großen Umweltgipfel der Vereinten Nationen in Rio - mauserten sich in der Wahrnehmung vieler die zunehmend professionalisierten NGOs zu den Hoffnungsträgern einer gesellschaftlichen Transformation. Neue NGOs wurden gegründet und Netzwerke geknüpft - auf nationaler und internationaler Ebene. Seitdem gab es durchaus punktuelle Erfolge.

Dennoch bestimmte ab 1999 mit "The People of Seattle" ein anderer Akteurstypus die öffentlichen Debatten um globale Gerechtigkeit. Die Weltsozialforen entstanden, Globalisierungskritik wurde zum "talk of the town". Zwar sind weder die von Porto Allegre ausgehenden Zusammenkünfte noch die Kritik an der neoliberalen Globalisierung ohne die Mitwirkung und Finanzierung von NGOs zu denken, dennoch wird ihr Pulsschlag von Akteursnetzwerken bestimmt, die eher Bewegungscharakter haben.

Verstärkt wird diese defensive Situation der NGOs dadurch, dass kaum eine Reflexion über die reale politische Entwicklung und den schlussendlichen Wegfall des rot-grünen Projekts stattgefunden hat.

Einige NGOs setzen daher auf die Bundeskanzlerin als weiße Ritterin im Kampf gegen den Hauptklimasünder USA. Das hat beim G-8-Gipfel in Heiligendamm dazu geführt, dass die inhaltlichen Debatten, etwa zum Thema Klima, weitgehend von der Bundesregierung dominiert wurden. Die NGOs sahen dabei ziemlich blass aus. Daran konnten auch einige professionell-spektakuläre Schlauchbootaktionen nichts ändern.

Um die Lücke zwischen Problemwahrnehmung und derzeitigen Einflussmöglichkeiten zu schließen, müssen NGOs die Fähigkeit erlangen, nennenswerte gesellschaftliche Kräfte zu mobilisieren.

Ein Blick auf einen anderen sozialen Akteur, die Gewerkschaften ist hier hilfreich. Seit einigen Jahren wird insbesondere bei Ver.di deshalb über das von US-amerikanischen Kollegen importierte Konzept des "Organizing" diskutiert. Punktuell wird es auch bereits eingesetzt.

Das "Organizing"-Modell ging als neues strategisches Konzept aus der Gewerkschaftsreformbewegung der 80er- und 90er-Jahre in den USA hervor. Dieses erschöpft sich nicht in simpler Mitgliederwerbung, sondern repräsentiert einen grundsätzlichen neuen Weg gewerkschaftlicher Arbeit. Zentral ist die Idee, dass die Beschäftigten im Zentrum der Konfliktaustragung stehen - nicht der gewerkschaftliche Apparat. "Organizing" meint das aktive Anwerben, Ausbilden und Empowerment von Aktivisten und Aktivistinnen. Es zielt darauf ab, in Bereichen organisatorisch Fuß zu fassen, die bisher nicht erreicht wurden.

Auch wenn die Herausforderungen, vor denen NGOs stehen, nur zum Teil mit denen der Gewerkschaften vergleichbar sind, kann dieses Konzept Anregungen dafür geben, wie eine aktivistische Basis mittelfristig aufgebaut werden kann. Der bisher überragend wichtigen Figur des Experten würde ein "Organizer" zumindest zur Seite gestellt, als Experte für soziale Interaktion. Kampagnen dürften zudem nicht mehr nur zum Ziel haben, für möglichst breite Bevölkerungsschichten anschlussfähig zu sein, sondern sich auch die Konfliktfähigkeit zum Ziel setzen. Eine Gruppe von besonders aktiven Mitgliedern muss motiviert werden können, in eine Auseinandersetzung einzusteigen. Denn ohne die klare Zuspitzung und Benennung von Gegnern geht dies nicht. Dass ein solcher Organisationswandel nicht ohne Konflikte abläuft, ist klar. Schließlich wurden bei einigen US-Gewerkschaften bis zu fünfzig Prozent der Ressourcen für das "Organizing" umgewidmet. Am Ende dieser Umorientierung stand sogar eine Abspaltung vom alten Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO. "Change to Win" lautet der Name der neuen Koalition.

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